Soziale Chancen von alternativen Mobilitätstypen in Großstädten
Schon immer waren Menschen unterwegs. Männer, Frauen und Kinder, Freund- und Verwandtschaften – ganze Völker rafften sich auf, um neue Räume zu erkunden und zu erschließen. Dabei hatte die Bewegung nicht nur eine ökonomisch-rationale Begründung. Das Reisen und Aufbrechen ist eine fundamentale Art und Weise die Welt zu erfahren: Menschen tendieren dazu, sich zu bewegen. Die Sesshaftigkeit, die wir heute vor allem in den Großstädten Europas und Nordamerikas beobachten können, ist, evolutionär betrachtet, ein völlig neuartiges Phänomen. Erst in der sogenannten neolithischen Revolution um 5000 v.Chr. hörten Menschen damit auf, sich in einem Zustand permanenter Bewegung – von einem Ort zum nächsten – zu befinden. Anstelle dessen ließen sie sich erstmals an einer Lokalität nieder und kultivierten dabei vor allem landwirtschaftliche Tätigkeiten. Und trotzdem: erst die Anfänge der Industrialisierung im späten 18.Jahrhundert ebneten den Weg in die heutige Urbanisierung.
Was ist soziale Mobilität?
SozialwissenschaftlerInnen untersuchen die Mobilitätsmuster einer Gesellschaft, um soziale Verhältnisse zu verstehen. Doch eigentlich meint der Begriff etwas anderes: es geht um die sozialen Auf- und Abstiegsmöglichkeiten, die Individuen innerhalb einer Gesellschaft realistisch bekommen. Im Extremfall bedeutet soziale Mobilität entweder „Einmal Tellerwäscher, immer Tellerwäscher“ oder „Vom Tellerwäscher zum Millionär“. Das Konzept soll als Fluiditätsmaßstab sozialen Status’ in Gesellschaften dienen. Seit ein paar Jahrzehnten verstehen Wissenschaftler den Begriff jedoch buchstäblicher. Die rasante Entwicklung der Megacities im 19. und 20. Jahrhundert – wie beispielsweise Dhaka (Bangladesch), Sao Paolo (Brasilien) oder Kalkutta (Indien) – hat den Fokus der sozialen Mobilität auf die tatsächliche Möglichkeit zur Bewegung gelegt. Sprich: Erst der Zugang zu Mobilität ermöglicht den Zugang zu den wertvollen materiellen und immateriellen Ressourcen, die eine urbane Gesellschaft bereitstellen kann: vor allem Bildung, Beruf und soziale Kontakte. Räumliche und soziale Mobilität sind damit untrennbar miteinander verbunden und werden gegenwärtig in den Sozialwissenschaften als gemeinsames Phänomen betrachtet. Denn aus den räumlichen Mobilitäsformen einer Gesellschaft können sich soziale Probleme ergeben, während umgekehrt auch die Verbesserung der Mobilitätssituation der Bevölkerung eine wirkungsvolle Form angewandter Sozialpolitik darstellen kann.
Held der Nation: das Schweizer Postauto
Die lokal verfügbaren Formen der Mobilität zeigen, wie Menschen sich im Raum bewegen und wie sie Raum gestalten. Viel wichtiger noch: Sie machen deutlich, welche Schwierigkeiten Menschen in Teilen einer Metropole oder eines Landes zu überwinden haben, um mobil zu sein. Wie einfach ist es, wirtschaftliche und kulturelle Zentren von peripheren Lokalitäten aus zu erreichen? Ein Beispiel: Die Schweiz gilt als eines der reichsten und innovativsten Länder der Welt. Der nationale Held ist das Postauto – ein regelrechter Mythos. Warum? In der Schweiz ist es gesetzlich festgelegt, dass das gelbe Postauto jedes, aber auch wirklich jedes noch so abgelegene Schweizer Alpendorf, fernab von jeder urbanen und internationalen Wirtschaftsanbindung, anfährt – obwohl es sich rein ökonomisch nicht lohnt. Etwa wie auf der Linie 220. Auf ihr erklimmt der gelbe Bus die Pochtenschlucht, die, mit 28 Prozent Steigung, steilste Busstrecke Europas. Die finale Station Griesalp ist ein Minidorf. Das Postauto ist für die Menschen die Verbindung zur Außenwelt: es bringt die Griesalper zur Arbeit in den Städten der Region und Touristen wiederum nach Griesalp.
Natürlich kann man sagen: „Ok, das ist die Schweiz, die kann sich das leisten“. Das mag sein. Doch ganz so einfach ist es nicht. Soziale Probleme existieren erst, wenn sie von einer kritischen Masse als solche wahrgenommen werden. Ein Problem ist erst ein soziales Problem, wenn es eine bestimmte Form der Anerkennung findet. Viele Probleme erreichen gar nicht die Aufmerksamkeit der Bevölkerung. Und selbst wenn, müssen sie sich durch einen langen Legitimationsprozess kämpfen, Menschen mobilisieren und schließlich den richtigen Handlungsplan realisieren. In allen Phasen dieses Prozesses hätte möglicherweise ein einziges Individuum ausgereicht, um die Griesalper immobil zu machen: zu umständlich, zu gefährlich, zu irrelevant. Und doch wird der Aufwand als angemessen betrachtet, um der Bevölkerung der Peripherie Zugang zum gesellschaftlichen Leben in den Zentren des Landes zu gewähren.
Gondeln in den Großstädten Südamerikas
Kaum ein Land konnte in den letzten Jahren durch sportliche Megaevents so eine globale Aufmerksamkeit auf sich ziehen wie Brasilien. Der Fußballweltmeisterschaft 2014 folgte die Olympiade in Rio de Janeiro 2016. Schon in den Jahren vor den beiden Weltereignissen, während die kolossalen Stadien in Brasilia, Sao Paolo oder Rio gebaut und eingeweiht wurden, erreichte ein soziales Problem der Städte Brasiliens zum ersten Mal eine Weltöffentlichkeit: die mit der Isolation zusammenhängende Ghettoisierung der Menschen an den äußeren Stadtgrenzen. Jene urbanen Gebiete, die sich in den letzten Jahrzehnten in die felsigen Berglandschaften Rio de Janeiros ausgeweitet haben, die sogenannten Favelas. Man kann sich das als Europäer wohl kaum vorstellen: eine Stadt, zwei vollkommen voneinander abgeschnittene Parallelgesellschaften. Denn keine Tram, kein Bus, keine U- oder S-Bahn lassen sich auf dem Hügelterrain installieren. Der Fußweg von der Favela Complexo do Alemão (übersetzt: der „Deutsche Komplex“) bis zum Zentrum der Stadt dauert etwa eine Stunde. Doch seit 2011 könnten die etwa 120.000 Bewohner des Complexo do Alemão den Rest der Stadt in unter 16 Minuten erreichen. Ganz bequem – per Gondel.
Unter dem Namen „Teleferico do Alemão“ hat die Stadt Rio de Janeiro ein 3.5 Kilometer langes Gondelsystem gebaut. Das System umfasst 152 Gondelkabinen, die je 10 Passagiere transportieren können. Für Bewohner der Favela Complexo do Alemão gibt es zwei gratis Rundfahrten pro Tag, die dritte Fahrt kostet dann einen halben US-Dollar. Das heißt, die Anwohner könnten in das urbane Zentrum Rios reisen. Seit 2016 ist der Gondelbetrieb jedoch vorerst und auf ungewisse Zeit eingestellt worden. Was zunächst als eine notwendige sechsmonatige Reparaturphase kommuniziert wurde, entpuppte sich als falsch: Der Staat hatte monatelang keine Subventionen an die Betreiber des Teleferico do Alemão gezahlt. Bis heute ist der Betrieb eingestellt. Wer sich ein Bild von den schwebenden Kabinen über den Kastenhäusern der Favelas machen will, kann sich dieses Video anschauen.
Nachhaltiger und erfolgreicher sind übrigens die drei ähnlichen Gondelprojekte in den südamerikanischen Metropolen Caracas (Venezuela), Medellín (Kolumbien) und La Paz– El Alto (Bolivien). Über das „Metrocable“ in Medellín gibt es bereits erste Forschungsprojekte, die einen Rückgang der Kriminalität in den Barrios, den Elendsquartieren der Stadt, zeigen. Die Forscher Cerda und Diez- Roux der Universität Columbia, New York, verglichen in einer Langzeitstudie die Kriminalitätsrate vor und nach dem Infrastrukturprojekt. Dabei stellten sie fest, dass die Abnahme der Mordrate in den Nachbarschaften, die direkten Zugang zu den Gondeln haben, 66 Prozent größer war als in entsprechenden Kontroll-Nachbarschaften.
Chancen für soziale UnternehmerInnen
Räumliche Beweglichkeit ist Voraussetzung, um am sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Leben teilnehmen zu können. Die sozialen Aufstiegschancen in einer Gesellschaft lassen sich daher sehr gut an den Möglichkeiten der Bewegung für alle Gesellschaftsgruppen erkennen. Die oben beschriebenen Initiativen und Projekte stehen sinnbildlich dafür, dass soziale Mobilität in einer Welt der Megacities nur durch Formen des Transports gegeben sein kann. Hier ist Innovation gefragt. Denn mehr Transport heißt auch immer weniger Raum und mehr Überlastung der Verkehrsinfrastruktur. Wer hätte gedacht, dass ein Transportmittel, das eigentlich für einen exklusiven Wintersport entwickelt wurde, abgeschnittene Bevölkerungsgruppen wieder re-integrieren kann? Die Idee für das „Metrocable“ in Medellín, übrigens das erste urbane Gondelprojekt in Südamerika, wurde von einem neueröffneten Luxushotel abgekupfert. Dieses wollte seinen Gästen einen exklusiven Weg zurück auf ihre Zimmer bieten: eben mit einer Gondel. Mittlerweile befördert das urbane Gondelsystem mehr als 30.000 Menschen jeden Tag.
Für viele Menschen ist es selbstverständlich sich in einer Stadt von Ort zu Ort zu bewegen. Vielen fällt dieser räumliche Spagat eventuell gar nicht wirklich auf. Aber er bedeutet ein Teilnehmen an verschiedenen Welten, in denen verschiedene soziale Rollen angenommen werden können. Jede soziale Rolle ermöglicht wiederum Zugang zu wertvollen Ressourcen. Das bedeutet: wer nicht mobil ist, ist schnell von einer ganzen Reihe von Ressourcen abgeschnitten. Das suspendierte Projekt „Teleferico do Alemão“ in Rio de Janeiro unterstreicht aber auch, wie schwierig es ist, ein derartiges Unternehmen nachhaltig aufzubauen. Denn die Technik alleine reicht nicht aus, sie muss in ein soziales Umfeld eingebettet werden, das sich durch seine individuellen Eigenarten auszeichnet.
(c) Bilder Medellín: Sebastian Preiß