Wir alle, die Gesellschaft, sind derzeit unter Quarantäne gestellt. Vielleicht ist das genau die richtige Zeit, um sich mal ein paar grundlegende Fragen zu stellen.
Die Krise ist einfach überall. In der Wirtschaft, zu Hause, im eigenen Gemüt und im News-Channel sowieso. In Zeiten von Corona (ja das kann man so sagen) ist die „Krise“ fast schon zur Normalität geworden. Vielleicht nicht normal, aber bekannt ist der Begriff der Krise ja auch schon ein bisschen länger. Schon die alten Griechen verwendeten ihn als „κρίσις“ (krísis), wenn auch noch als Bezeichnung für das Unterscheiden von Dingen. Aber genau dieses Unterscheiden macht unser heutiges Verständnis von Krise (schwierige Lage und so) sogar wieder deutlich. Denn in der Krise unterscheiden wir doch allzu gern in eine Welt vor und nach Corona – ach wie schön doch alles war (Vorsicht, Ironie!). Gerne wird in all der Krisenhaftigkeit noch eine andere Unterscheidung gemacht. Nämlich in eine zweckrationale und eine moralische Gesellschaftsordnung. In eine Gemeinschaft also, in der das Prinzip der Nutzenmaximierung ganz oben in der Werteskala thront und in eine, in der so ein „Nutzen“ im besten Falle Mittel zum moralischen Zweck ist.
(K)eine Frage von Wert
Diese Gegenüberstellung einer zweckrationalen und – und nicht selten – ökonomisch beanspruchten sowie einer vordergründig humanistisch, gemeinwohlorientierten Welt ist nicht nur heillos überspitzt, sondern momentan auch Ausgangspunkt verschiedenster Diskussionen, deren Inhalt kaum besorgniserregender sein könnte. Denn die Diskussionsfragen dazu lauten meist so: „Geld oder Leben?“ (FAZ), „Triage: Wer wird behandelt, wer nicht?“ (Deutsche Welle), „Wessen Leben ist mehr wert?“ (ntv). Mehr als besorgniserregend ist dann vielleicht noch die Aussage Wolfgang Schäubles im Interview mit dem Tagesspiegel. So könne dieser der Aussage „alles andere habe vor dem Schutz von Leben zurückzutreten“ keinesfalls zustimmen. Denn das sei „in dieser Absolutheit nicht richtig. Grundrechte beschränken sich gegenseitig. Wenn es überhaupt einen absoluten Wert in unserem Grundgesetz gibt, dann ist das die Würde des Menschen. Die ist unantastbar. Aber sie schließt nicht aus, dass wir sterben müssen.“ Hinter diesem Satz lässt sich letztlich eine Abwägung zwischen Wirtschaft und Mensch vermuten, die auch eine Abwägung des Wertes von Menschenleben beinhaltet. Zumindest ist es naiv anzunehmen, es gäbe in der Wirtschaft keine durchgesetzten Interessen, Motive und Ziele, die ihren Platz in Schäubles Satz eher bei „alles andere“ einnehmen und nicht „dem Schutz von Leben“ dienen.
So eine Abwägung wäre aber nicht nur zynisch, sondern auch aus Aspekten der Logik schlichtweg falsch – denn ist die Würde jedes einzelnen Menschen doch unantastbar, dann ist sie auch nicht durch wirtschaftliche Interessen in Frage zu stellen. Sind diese Interessen aber nicht immer dem Leben von Menschen unterzuordnen, kann das nur bedeuten, dass ökonomische Interessen Menschenleben fordern dürfen. Ist diese Deutung Schäubles Aussage überspitzt? Ist sie bloß ein Ausdruck eines anderen Standpunktes? Möglich. Nicht möglich ist und bleibt jedoch die Abwägung des Wertes eines Menschen untereinander – die ist letztlich auch gar nicht notwendig.
Eine Frage der Struktur
Denn notwendigerweise gibt es keine gesellschaftliche Zwickmühle, in der so oder so jede Entscheidung ihre Opfer fordert, weil man sich ganz für die Wirtschaft und gegen die Moral oder andersherum entscheiden müsste. Denn das würde bedeuten, dass wir keine Wahl über das System hätten, indem wir leben wollen. Es würde auch bedeuten, dass ökonomische Interessen unvereinbar mit moralischen Grundsätzen und Normen sind. Das ist aber nicht der Fall, denn Wirtschaft und Moral sind kulturelle Errungenschaften und nicht durch Naturgesetze vorgegeben. Das heißt auch, dass eine Gesellschaft sehr wohl dazu in der Lage ist, über die Art und Weise des Zusammenspiels von Wirtschaft und Moral nachzudenken, zu diskutieren, es zu entwickeln und zu etablieren. Wenn es also ein Abwägungsproblem gibt, dann eines über die Rolle der einzelnen Personen und Institutionen innerhalb einer Gesellschaft und somit eines über ihre Struktur. Aber wie kann das funktionieren?
Gerechtigkeit als Fairness
Um das herauszufinden, muss man nicht erst auf eine Antwort aus der Zukunft hoffen, sondern einfach in bereits vorhandener Literatur nachblättern. Eine solches Fundstück vergangener Tage ist etwa John Rawls‘ „Eine Theorie der Gerechtigkeit“. Rawls, einer der vielleicht einflussreichsten Philosophen des 21. Jahrhunderts, hat dabei auf mehr als 600 Seiten festgehalten, wie die Mitglieder einer Gesellschaft gerecht und damit fair miteinander umgehen können. Rawls‘ Überlegungen haben damit also keineswegs an Bedeutung verloren und wirken gerade jetzt aktueller denn je. Vielleicht können sie ja sogar zeigen, wie eine besserer Gesellschaftsordnung nach der Krise aussehen könnte.
Zuerst muss man zugeben, dass Rawls den Begriff „besser“ nicht verwenden würde. Vielmehr redet er von der sogenannten „wohlgeordneten Gesellschaft“. Das ist sie vor allem dann, „wenn sie nicht nur auf das Wohl ihrer Mitglieder zugeschnitten ist, sondern auch von einer gemeinsamen Gerechtigkeitsvorstellung wirksam gesteuert wird. Es handelt sich also um eine Gesellschaft, in der (1) jeder die gleichen Gerechtigkeitsgrundsätze anerkennt und weiß, dass das auch die anderen tun, und (2) die grundlegenden gesellschaftlichen Institutionen bekanntermaßen diesen Grundsätzen genügen.“ Wie diese gemeinsamen Grundsätze letztlich aussehen sollen, beschreibt Rawls anhand der „beiden Grundsätze der Gerechtigkeit“.
1:
Jedermann soll gleiches Recht auf das umfangreichste System gleicher Grundfreiheiten haben, das mit dem gleichen System für alle anderen verträglich ist.
2:
Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten sind so zu gestalten, dass (a) vernünftigerweise zu erwarten ist, dass sie zu jedermanns Vorteil dienen, und (b) sie mit Positionen und Ämtern verbunden sind, die jedem offen stehen.
Ohne Gerechtigkeit geht es also nicht und die muss verstanden werden als eine Art faire Chancengleichheit. Ein Zustand in dem „vernünftige Wesen“ in einer vernünftigen Weise über ihre Ziele und somit über ihre eigenen Lebenspläne frei entscheiden können. Fair und somit gerecht ist dabei das, was eine Besser- oder Schlechterstellung durch äußere Umstände, unter in freier und gleicher Beziehung zu einander stehender Menschen ausschließt. Mal ganz einfach ausgedrückt: Niemand kann einen Nachteil aus etwas ziehen, für das er oder sie nichts kann. Alles schön und gut, aber in der Realität kaum umzusetzen, oder?
Ungleiches unter Gleichen
Rawls war durchaus Realist. Ihm war klar, dass Gleichheit nicht heißen kann, dass jeder die gleiche Position in einer Gesellschaft einnehmen kann, zumindest dann nicht, wenn es um die Besetzung bestimmter „Positionen und Ämter“ in einer Gesellschaft geht. So gibt es in jeder Gesellschaft Grundgüter in Form von „Rechten, Freiheiten und Chancen sowie Einkommen und Vermögen“, die auch grundsätzlich gleich zu verteilen wären, was aber aufgrund verschiedener physischer und sozialer Startbedingungen nicht immer möglich ist. Für Rawls Gerechtigkeitstheorie gilt dann: Auch eine Ungleichverteilung von gesellschaftlichen Grundgütern ist gerecht, sofern so eine „ungleiche Verteilung jedermann zum Vorteil gereicht.“ Ungerecht sind also die „Ungleichheiten, die nicht jedermann Nutzen bringen“ und gerecht die „jeden besser stellen als in dem angenommenen Ausgangszustand.“ Auch für Rawls gibt es also die Gerechtigkeit im Ungleichen – aber eben nur, weil er das Ungleiche an ein gleiches Ergebnis koppelt – nämlich der Besserstellung eines und einer jeden.
Fair und somit gerecht ist demzufolge ein Zustand oder eine Handlung nach dem Unterschiedsprinzip. Wenn also der Unterschied bei der Verteilung der gesellschaftlichen Grundgüter besser ist als deren Gleichverteilung. Das macht durchaus Sinn, denn wie gesagt, die Startbedingungen zur Verwirklichung der eigenen „Lebenspläne“ sind nicht für alle die gleichen. Äußere, nicht selten ungerechte, Umstände und Einflüsse und die ungleiche Verteilung – wie Rawls sie nennt – „natürlicher Güter“ in Form von „Gesundheit und Lebenskraft, Intelligenz und Phantasie“ verhindern das nur allzu oft. Wer nicht naiv ist, muss zugeben, dass eine Gemeinschaft mehr davon hat, Rechte und Pflichten nach diesen „Begünstigungen“ zu verteilen – zumindest einige davon. Aber gelten müsse dabei eben immer: „die besseren Aussichten der Begünstigten [sind] genau dann gerecht, wenn sie zur Verbesserung der am wenigsten begünstigten Mitglieder der Gesellschaft beitragen“.
Rawls geht es also um diejenigen in einer Gesellschaft, die am wenigsten besitzen und die nicht durch irgendwelche Bedürfnisse von denjenigen, denen es eh schon besser geht, noch zusätzlich benachteiligt werden sollen. Das macht auch durchaus Sinn, denn es scheint die einzige Möglichkeit in einer liberalen Gesellschaft zu sein, auch diejenigen mitzunehmen, die sonst nur allzu gerne vergessen werden. Zumindest ist so kein weiteres Auseinanderdriften von Besser- und Schlechtergestellten möglich, sondern tritt im Laufe der Zeit die „Annäherung an den vollkommen gerechten Zustand jedermanns Aussichten“ ein – so jedenfalls die Abicht Rawls‘.
Freiheit vor Reichtum
Damit aber Ungleichheit zur Wohlfahrtssteigerung aller führt, muss man ihr Grenzen setzen – alles andere würde Rawls Vorhaben auch unlogisch erscheinen lassen. So macht es vielleicht Sinn, dass bestimmte Personen anderen talentierteren Personen in einer bestimmten Sache den Vorzug zum Wohle aller überlassen, in dem sie etwa auf die Vorteile durch das Innehaben bestimmter Ämter oder Positionen verzichten. nicht aber der Verzicht der eigenen Freiheitsrechte. Denn zu was würde das führen? Es würde dazu führen, dass Menschen nicht mehr selbstbestimmt leben können, Fremdbestimmung somit legitimiert wird und damit vielleicht auch alle möglichen Gefahren für das eigene Wohl und Leben drohen. Von diesem Punkt aus betrachtet, ist es nur schwer vorstellbar, dass Rawls und Schäuble Freunde geworden wären. Denn für Rawls muss sehr wohl alles andere vor dem Schutz des Menschen zurücktreten. Denn für ihn gilt, dass „Verletzungen der vom ersten Grundsatz geschützten gleichen Grundfreiheiten nicht durch größere gesellschaftliche oder wirtschaftliche Vorteile gerechtfertigt oder ausgeglichen werden können.“ Zumindest nicht in einer Gesellschaft der gleichen Menschenwürde für jeden. Denn wie soll sie erhalten werden, wenn sie eintauschbar ist? Und wie könnte sie zurückgefordert werden, wenn man auf sie, mitsamt den damit verbundenen Freiheiten und Rechten, nicht mehr verzichten will oder kann? Die Antwort kann dazu nur lauten: möglicherweise gar nicht. So ein „gar nicht“ ist für Rawls nicht hinnehmbar, was dazu führt, dass der erste Gerechtigkeitsgrundsatz immer zur Bedingung des zweiten wird.
Gerechtigkeit lässt sich also ordnen und das aus gutem Grund. Solch ein Vorrang individueller Grundfreiheiten vor soziökonomischen Vorteilen mitsamt dem erwähnten Unterschiedsprinzip ist zudem die logische Konsequenz der Vernunft. So muss man sich schon fragen, warum eine vernünftige aber mit wenig gesellschaftlichen Grundgütern ausgestattete Person dem Handeln einer an gesellschaftlichen Gütern reichen Person zustimmen sollte, wenn sie dadurch einen Nachteil erleidet? Aus vernünftigen Überlegungen würde sie das vermutlich nicht tun. Um das zu veranschaulichen, macht Rawls ein Experiment und versetzt die Personen einer Gesellschaft als gleichberechtigte Vertragspartner*innen in einen hypothetischen Urzustand und das mit Hilfe des sogenannten „Schleier des Nichtwissens.“
Die Zukunft, ein Experiment?
Rawls versteht ihn als „angemessenen Ausgangszustand, der gewährleistet, dass die in ihm erzielten Grundvereinbarungen fair sind. Eine bisschen klarer ausgedrückt: Unter diesem Schleier des Nichtwissens gibt es keine „empirischen Ungleichheiten“ in dem Personen gegenüber anderen bevorteilt sind, weil sie einfach mehr Glück im Leben hatten und vielleicht in besseren Verhältnissen geboren wurden oder eine bessere Bildung als andere erhalten haben. Für Rawls sind das alles eben nur Zufälligkeiten. Sie können zurecht keinen Ausgangspunkt für eine institutionelle Gesellschaftsordnung sein. Jedenfalls dann nicht, wenn ihr höchstes Ziel darin besteht, dass jede*r, im eigenen möglichen Rahmen, den eigenen Interessen nachgehen kann. Anderenfalls würde eine Gesellschaft nur dazu dienen, die Begünstigten einer Gesellschaft noch mehr zu begünstigen und die schlecht gestellten noch schlechter zu stellen.
Unter dem Schleier des Nichtwissens wird demnach die unfaire Wirkung von Zufälligkeiten beseitigt, indem man diese hypothetisch ausklammert und den Menschen im Urzustand die Kenntnis über mögliche Vorteile und somit Potentiale von Vorteilshandlungen nimmt und damit empirische Ungleichheiten zumindest theoretisch korrigiert. Unzulässige Kenntnisse sind demnach: das Wissen über den eigenen Platz oder Status in der Gesellschaft sowie Kenntnisse über die eigene Klasse, Intelligenz oder physische und kognitive Fähigkeiten. Außerdem darf ebenso wenig über die eigene Vorstellung vom Guten, konkrete Vorstellungen des eigenen, vernünftigen Lebensplanes oder die Spezifika der eigenen Psyche oder Risikobereitschaft bekannt sein. Darüber hinaus gibt es dort kein Wissen über die spezifischen gesellschaftlichen Strukturen oder der eigenen Generationszugehörigkeit. Dass die Menschen in so einem Zustand ein faires Miteinander aushandeln würden, erscheint dabei fast schon unausweichlich. Denn, da der Mensch dort „vernünftigerweise [..] nicht mehr als einen gleichen Anteil an den gesellschaftlichen Grundgütern erwarten kann und nicht weniger hinnehmen wird“ ist es am vernünftigsten Gerechtigkeitsgrundsätze anzuerkennen, die „gleiche Grundfreiheiten für alle sowie faire Chancengleichheit und Gleichverteilung von Einkommen und Vermögen“ fordern.
Was nützt nun so ein Gedankenspiel mitsamt einer Gerechtigkeitstheorie im wahren Leben? Vielleicht ein ganze Menge, wenn es zeigt, dass die Würde der Menschen in einer Gesellschaft nicht verhandelbar ist. Denn der Mensch ist schließlich der Zweck und nicht das Mittel. Vielleicht zeigt es auch, dass eine Gesellschaft nur nachhaltig funktionieren kann, wenn sie nicht ihre schwächsten Mitglieder vergisst. Was zeigt uns das für die Zeiten in und nach der Krise? Bei aller Unklarheit eines wohl sehr deutlich: Wer es mit der Gerechtigkeit ernst meint, wägt sie nicht ab.
Alle weiteren Zitate aus:
Rawls, John (1971): Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp. (Im Text: §§1-26)
(c): Montage: Christoph Eipert/relaio
Material: John Rawls icon icon by Icons8, phrase.it