Die stille Zeit
Im Juli 2017 hat das Start-Up Khala die Crowdfunding-Kampagne für ihre Slow-Fashion-Mode erfolgreich abgeschlossen. Daraufhin hätte eigentlich die Produktion in Malawi anlaufen sollen. Doch so einfach war es nicht. Es gab Probleme mit dem Stofflieferanten und die Zusammenarbeit mit der Designerin in Malawi musste beendet werden. Dadurch ging auch das Atelier für die Produktion verloren. Doch davon ließen sich Mel, Bene und Hubi nicht unterkriegen. Was sie alles erleben – vor allem in Malawi vor Ort – erzählt Bene von Khala regelmäßig.
Und irgendwann war es dann doch Winter. Ein eisiger Wind blies mir Schnee ins Gesicht, während ich, mit unzähligen schuhkartongroßen, braunen Schachteln beladen, den Weg zur Post bewältigte. In den Schachteln befanden sich Wendejacken, die in verhältnismäßig großer Zahl über den Khala Onlineshop vorbestellt worden waren.
Aber beginnen wir zwei Monate vorher, im Herbst. Ich saß auf einer Bank unter einem blauen Oktoberhimmel und telefonierte mit Mel, die seit einigen Wochen wieder in Malawi war. Sie war ein weiteres Mal nach Lilongwe geflogen und wollte das bevorstehende halbe Jahr, das sie dort verbringen würde, nutzen, um in unserer Schneiderei einiges geradezubiegen und weiterzuentwickeln. Es gab viel zu tun. Materialien und Gelder waren verschwunden, eine kleine Kriminalgeschichte hatte sich zugetragen. Aber dazu später. So hingen wir also am Telefon, saßen auf verschiedenen Kontinenten, teilten uns denselben blauen Himmel und planten für Weihnachten. Die Zeit, in der die halbe Welt verrückt spielt, stand vor der Tür. Und wir wollten dieses Jahr mitspielen. Ein Jahr zuvor hatten wir die Schneiderei gerade erst eingerichtet. Wir waren damals damit beschäftigt gewesen, unsere Crowdfunding-Unterstützer*innen mit ihren verdienten Rewards zu versorgen und hatten daher noch keine Ware verkaufen können. Doch mittlerweile war Khala weiter. Und nochmal wollten wir uns das Weihnachtsgeschäft nicht entgehen lassen. Einzig: Wir hatten uns bisher noch nicht um Absatzmöglichkeiten kümmern können. Im Sommer waren wir auf ein paar Festivals gewesen, sonst verkauften wir unsere Ware ausschließlich online. Für Weihnachten würden wir an ein paar Christkindlmärkten teilnehmen. Die Vorstellung, in einer Bude zu sitzen und zwischen Christbaumkugeln und Kripperlfiguren Jacken zu verkaufen, gefiel mir nicht.
Nach unserem Telefonat begannen wir, Khala für die Weihnachtszeit vorzubereiten. Ich sah mich ein wenig um und hatte Glück. Der funkigste Weihnachtsmarkt Münchens hatte noch einen freien Platz für unseren Stand. Der würde auf einem Bazar in einem großen, gemütlichen Zirkuszelt Obdach finden. Noch dazu dauerte dieser Weihnachtsmarkt vier Wochen. Ich würde also nicht verschiedene kleine Märkte abfahren müssen, sondern den Stand nur einmal aufbauen und dann 30 Tage lang betreiben. Apropos Stand. Es gab noch keinen.
Unseren Verkaufsstand, den wir für den Sommer gebaut hatten, hatten wir so entworfen, dass er auf lediglich zwei Quadratmetern Platz fand. Das sparte Standmiete. Auf der Suche nach günstigem Baumaterial hatten wir damals in einer Scheune von Hubis Vater einige alte Latten und ein hölzernes Bettgestell gefunden. Daraus hatten wir ein niedliches Khala-Ständchen getischlert. Dieses hatte uns treue Dienste erwiesen. Aber nun waren wir ihm entwachsen. Ich brauchte schnell einen neuen, größeren, soliden, schönen, praktischen Stand – der natürlich wieder mal nicht viel kosten durfte. Im Mai waren wir bei einem Bayern 2-Wettbewerb nominiert gewesen. Am Gala-Abend hatten wir die Jungs von der Lernwerkstatt kennengelernt. Ein soziales Projekt, um Geflüchteten Handwerkskurse zu ermöglichen. Kurzerhand rief ich dort an. Roberto, der Leiter der Handwerkskurse, war sofort begeistert und verstand es aufs Vorzüglichste, den Stand in meinem Kopf innerhalb einer Woche in der Realität nachzubauen. Next problem solved.
Wir hatten nun also den Platz auf dem Weihnachtsmarkt und der Stand war fertig. Nun musste er nur noch gefüllt werden. Noch hatten wir kaum aber kaum Ware. Während ich in Deutschland die Vorbereitungen für den Weihnachtsmarkt traf, kämpfte Mel mit der Produktion.
Es hatten sich einige Komplikationen ergeben, seitdem sie in Malawi gelandet war. Den größten Verdruss bereitete ihr unser malawischer Projektmanager. Der hatte wohl schon seit längerer Zeit seine Arbeit bei Khala anders genutzt, als es in seinem Vertrag stand. Mel kam dahinter, dass er unsere Steuergelder veruntreut und große Mengen Stoff gestohlen hatte. Außerdem vermuteten wir, dass er ein eigenes kleines Business mit unserer Ware am Laufen hatte. Ihn zu feuern und den Fall den Behörden zu übergeben, fiel Mel alles andere als leicht. Zumal er bei Khala von Anfang an dabei gewesen war und durch die Strapazen, die wir – und vor allem Mel – mit ihm durchlebt hatten, auch ein persönliches, freundschaftliches Verhältnis entstanden war. Mel musste den Laden nun also alleine managen. Da der nun seines Postens enthobene Manager unter anderem die Aufgabe der Qualitätssicherung scheinbar länger nicht mehr pflichtbewusst verfolgt hatte, hatten sich unzählige Jacken angehäuft, die ausgebessert und umgenäht werden mussten. Zudem hatten wir schon seit Langem geplant, unser Sortiment um Wendejacken zu erweitern. Jacken also, die auf einer Seite den farbenfrohen Chitenje-Stoff zeigen, die man aber auch auf links drehen kann, sodass ein einfarbiger Hanfstoff nach außen schaut und man etwas dezenter daherkommt. Mittlerweile hatten wir genug Kapital, um die Materialien dafür einzukaufen. Aus Südafrika wurden Wende-Reißverschlüsse und Hanfstoffe in unsere Werkstatt geliefert. Am Markt in Lilongwe besorgte Mel neue Chitenje-Stoffe, die uns über den Verlust der alten Stoffe hinweghalfen und darüber hinaus noch eine höhere Qualität aufwiesen. Die Zeit rannte, der Weihnachtsmarkt rückte näher. Und eigentlich hätte die Produktion nun wieder rundlaufen können. Doch plötzlich verschwand unser Chef-Schneider. Er kam einfach nicht mehr zur Arbeit. Niemand wusste, wo er war; übers Handy war er nicht zu erreichen. Sein Verschwinden bedeutete auch, dass die Hälfte der Produktion lahmlag. Der Mann leistete gute Arbeit und wir wollten ihn nicht aufgeben. Nach zwei Wochen ohne ein Lebenszeichen machte sich Mel zusammen mit unserer Zuschneiderin in einem Vorort Lilongwes auf die Suche nach ihm. Sie fanden ihn bei sich zu Hause. Am nächsten Tag kam er wieder regulär zur Arbeit. Es gehört zu den Absurditäten, denen man in Malawi begegnet, dass diese Nebengeschichte keine Pointe hat. Es gab keinen Grund für das klanglose Verschwinden des Schneiders. Er war mit seinem Arbeitsplatz zufrieden und seine Familie auf das Geld angewiesen, das er bei uns verdient. Für ein paar Tage hatte er einfach gemeint, etwas Besseres zu tun zu haben.
Die ersten Wendejacken wurden ausgetüftelt und entwickelt. Sie sahen sehr gut aus. Ein paar Wochen später konnten wir sie zum Verkauf anbieten. Ein Freund, der eine Expertise für Werbung in Sozialen Netzwerken entwickelt hatte, schaltete für uns eine Anzeigenkampagne auf Facebook. Es war, als hätten die Leute nur auf die neuen Jacken gewartet. Über den Onlineshop nahmen wir fleißig Vorbestellungen entgegen, die dann direkt im Anschluss in Malawi genäht wurden. Gleichzeitig begann nun der Weihnachtsmarkt. Wir hatten einige Freiwillige akquirieren können, die mich mit den Schichten am Stand unterstützten. Ich hatte ja noch Jobs nebenher. Der Dezember sah nun so aus:
Über unseren eigenen Onlineshop sowie über zwei weitere Plattformen, auf denen wir unsere Stücke anbieten, kamen täglich neue Bestellungen rein. Gleichzeitig betreute ich den Stand auf dem Weihnachtsmarkt, wo der Absatz ebenfalls zu unserer Zufriedenheit lief. Der schöne, sich durch die reizüberflutende Farbenpracht der verschieden gemusterten Jacken nahezu vollständig selbst dekorierende Stand täuschte viele Besucher darüber hinweg, wie klein Khala immer noch war. Tatsächlich hatte ich sämtliche verfügbaren Lagerbestände an unserem Stand untergebracht. Wenn uns also eine Bestellung übers Internet erreichte, nahm ich die bestellte Ware von der Stange unserer Bude und brachte sie am nächsten Morgen zur Post. Um außerdem nicht vorrätige Größen und Muster anbieten zu können, nahm ich auch am Weihnachtsmarkt Vorbestellungen entgegen, funkte diese gleich weiter an Mel, die sie im Anschluss in Malawi fertigen ließ. Dieses Angebot gefiel den Gästen und es wurde oft in Anspruch genommen.
Die am Stand und online vorbestellten und gefertigten Bomber- und Wendejacken trudelten dann Woche für Woche in Deutschland ein. Ich holte sie beim Zoll ab, verpackte sie und brachte sie zur Post, oder informierte Vorbesteller*innen, dass ihre Bestellung nun abholbar war; die übrigen Jacken brachte ich zum Weihnachtsmarkt und füllte die leer gewordenen Plätze an den Kleiderstangen auf. Parallel dazu trafen nun auch immer wieder die dem Versandgeschäft immanenten Retouren ein. Da ich selbst kaum mehr daheim war, gaben die emsigen DHL-Bienchen all die retournierten Päckchen bei verschiedenen meiner Nachbarn ab. Nur ungern öffnete ich noch den Briefkasten, befürchtete ich doch, dass mir wieder ein gelbes Kärtchen mit dem Vermerk „Ihre Sendung wurde an Ihren Nachbarn übergeben“ entgegen flatterte. Auf den Kärtchen stand noch, bemüht um Konkretisierung, der Nachname des Nachbarn. Wenn es ganz blöd lief, lautete dieser Name Müller. Bei mir im Haus wohnen drei Müllers. Auf der Suche nach meinen Päckchen lernte ich sie nun alle kennen. Die Vorbestellungen, Verkäufe, Retouren und neuen Lieferungen bedurften einer Dokumentation. Ein konkretes System dafür gab es noch nicht. Anfangs vermerkte ich alles auf verschiedenen Zetteln. Es häuften sich aber die Fälle, in denen ich etwas auf einen Zettel schreiben wollte und den Stift verdutzt wieder beiseitelegte, da ich die im Entstehen begriffene Notiz scheinbar zu einem früheren Zeitpunkt bereits verfasst hatte. Die Zettelwirtschaft wich einem System aus Listen und Verzeichnissen, welches ich stets mit mir führte, um Daten nachschlagen und updaten zu können. Aktentaschen hatte ich immer als prätentiöses Accessoire von Young Professionals betrachtet. Nun verstand ich. Sollte ich mir vielleicht eine zu Weihnachten wünschen?
Während sich mein Leben in einem Strudel aus vollen und leeren Versandkartons, Kärtchen, Listen und Zettelchen, Zolldokumenten, Weihnachtsmarkt und Paketklebeband zu verheddern drohte, forderte das Weihnachtsgeschäft Mel und das Team in Malawi nicht weniger heraus.
Dort war von Weihnachten indes nicht viel zu spüren. Die Regenzeit hüllte das Land in ein grünes Kleid und die gleichzeitig hohen Temperaturen führten zu einer Schwüle, die einem den Schweiß aus den Poren presste. Im Radio kam niemand auf die Idee, „Last Christmas“ zu spielen, und abgesehen von einer etwas verloren wirkenden Plastik-Tanne in einer Mall, erinnerte auch optisch wenig an Festlichkeit.
In unserem Atelier gab es zwar auch keine Deko, aber die vermerkten Jackenbestellungen an einem neu angeschafften Whiteboard ließen erkennen, dass es in Deutschland sehr weihnachtete. Die schlagartige Nachfrage nach den neuen Modellen und die Sonderanfertigungen für Besteller und Bestellerinnen am Weihnachtsmarkt in München erforderten eine wohlüberlegte Koordination der eingeschränkten Produktionskapazitäten und der teilweise überforderten Mitarbeiter*innen – und auch dortzulande eine akribische Dokumentation. Zudem hatte Mel erst kürzlich einen neuen Schneider eingestellt, der nun in der Anlernphase war. In Malawi ist Schneider, wer Zugang zu einer Nähmaschine hat. Die Stellenausschreibung nach einem fähigen, neuen Kollegen war daher eine Angelegenheit für sich. Ok, ganz kurz: Mel hatte bereits ein paar erfolglose Probearbeitstage mit verschiedenen Anwärtern für den Job hinter sich, da erreichte sie eines Tages eine Anfrage eines malawischen Rappers. Der MC wollte mit unseren Bomberjacken ein Musikvideo drehen und bewarb sich im gleichen Atemzug als Mels Assistent. Das Video wurde gedreht, wegen der schlechten Bildqualität wurde der Gastauftritt der Khala-Stücke jedoch wieder herausgeschnitten. Zu mehreren vereinbarten Terminen, bei denen seine Karrierechancen als Assistenz von Mel und eventuell neuer Projektkoordinator ausgelotet hätten werden sollen, erschien der arbeitssuchende Tausendsassa nicht. Somit war sein Nebenauftritt in dieser Geschichte auch schon wieder zu Ende. Zuvor hatte er aber noch einen seiner Nachbarn als neuen Schneider empfohlen. Und dieser saß nun an einer Nähmaschine bei Mel im Atelier und wurde mit den Spezifitäten von Schnittmustern, Nadeln, Stichlängen und Materialien vertraut gemacht.
Aus Chaos wurde Routine, aus Fehlern wertvolle Lektionen und aus Stoffen wurden Jacken, die nach Deutschland wanderten. Bei wem die wohl überall unterm Christbaum landen würden, fragte ich mich, während mir ein eisiger Wind Schnee ins Gesicht blies und ich die in unzähligen schuhkartongroßen, braunen Schachteln verpackten Jacken durch die Kälte zur Post trug.
Khala’s erste Weihnachten waren nervenaufreibend und stressig gewesen. Aber durchaus erfolgreich. Mit dem Gewinn, den wir machten, hatten wir nun erstmals genug Geld auf der hohen Kante, um mehrere Monate in die Zukunft zu kalkulieren. Dadurch würden sich im neuen Jahr vollkommen neue Möglichkeiten ergeben.
(c) alle Bilder Benedikt Habermann/ Khala