Das Attentat von Halle ist der sichere Beweis: Rechtsextremismus ist digital geworden. Eine Erkenntnis, die nicht überall angekommen ist.
Der Befund ist eindeutig: digitale Rechtsextremismus-Blindheit. Der Name des Patienten? Der deutsche Rechtsstaat. Der bescheinigte Befund lässt keine Zweifel offen. So gibt der Kranke doch selbst zu, dass mit ihm etwas nicht stimmt. Wenn etwa Bundesjustizministerin Christine Lambrecht eingesteht, „dass wir vieles nicht in dieser Dramatik, in dieser Bedeutung wahrgenommen haben“. Dramatisch sind vor allem die Symptome dieses Krankheitsbildes. Es sind keine geringeren als die Gefährdung und zuweilen auch Vernichtung von Leib und Leben. So lassen sich seit der deutschen Wiedervereinigung nun schon mindestens 208 Fälle rechter Gewalt bescheinigen, in denen Menschen – wie der stern es drastisch aber treffend beschreibt – „erschlagen, erschossen oder verbrannt“ wurden.
Dramatisch ist aber vor allem die digitale Mutation des besagten Problems. Denn es gibt einen neuen Tatort rechter Gewaltexzesse. Der heißt nicht mehr bloß Hoyerswerda, Köln oder Rostock-Lichtenhagen, sondern „Twitch“, „4chan“ und Youtube. Dramatisch nun, da rechtsstaatliche Schutzfunktionen dort oftmals nicht greifen und man fast den Eindruck bekommt, dass sie es auch gar nicht sollen. So müssen neuerdings Politikerinnen wie Renate Kühnast hinnehmen, sich online als „drecks Fotze“ oder „Schlampe“ beleidigen zu lassen. So sieht es zumindest das Landgericht Berlin, wenn es in seiner Urteilsverkündung mitteilt, dass sich solche verbalen Entgleisungen lediglich „haarscharf an der Grenze des noch hinnehmbaren“ bewegen, diese aber nicht überschreiten. Nicht weniger verblüffend ist da noch Horst Seehofers Vorhaben, nach den jüngsten Vorfällen in Halle „die Gamer-Szene stärker in den Blick nehmen“ zu wollen. Der Bundespolitik und Rechtsprechung scheint also nichts Besseres einzufallen als pauschalisierte Scheinlösungen inklusive dem gesetzlich legitimierten Abbau von Persönlichkeitsrechten. Aber, wie der SPIEGEL zuletzt schrieb, ist doch eines klar: „Das Attentat von Halle begann im Netz, mit einer Radikalisierung des Täters in einschlägigen Foren.“
Soll der Patient aber von seiner Sehschwäche genesen, braucht es zunächst ein klares Verständnis über den digitalen Rechtsextremismus selbst, um seine Gestalt als öffentliches Problem deutlich erkennen zu können. Dazu muss man sich fragen, warum Rechtsextremist*innen überhaupt im Netz ihr Unwesen treiben können. Zugegeben, das ist kein leichtes Unterfangen. Denn wer rechte Logiken im Netz verstehen will, muss sich ebenso im Klaren sein, dass Rechtsextremist*innen international agieren, sich in sogenannten „hate clusters“ vernetzen und über „hate highways“ miteinander agieren. Herausgefunden hat dies nun ein US-amerikanisches Forschungsteam, das seine Ergebnisse im Wissenschaftsjournal „Nature“ veröffentlicht hat. Demnach lässt sich mathematisch darstellen, dass Extremist*innen in einem internationalen Hass-Netzwerk agieren und dabei plattformübergreifend miteinander kommunizieren. Die wichtige Erkenntnis dabei: Wer diese Komplexität nicht erkennt, verschlimmert die Lage eher, als dass sie sich verbessert. Denn wer seine Arbeit auf nur eine oder wenige Plattformen beschränkt, der hinterlässt einen zu großen Schatten, in dem Hasstiraden schonungslos gedeihen können.
Laut Paper muss eine erfolgreiche Polizeiarbeit „Anti-Hate-User“ dazu ermutigen, eigene Cluster zu bilden, die sich dann an Erzählungen beteiligen und Hass im Netz im Keim ersticken. Solches Wissen ist nicht unwesentlich für die Arbeit online ermittelnder Behörden sowie für ein Bundesinnenministerium, das im Zuge von Halle und dem Fall Lübcke nun hunderte neue Stellen zur Bekämpfung von Rechtsextremismus schaffen will. Aber auch die Gesetzgebung muss sich überlegen, wie sie ihren Blick wieder schärfen kann. So ist es fraglich, warum Google und somit auch Youtube mit Algorithmen operieren dürfen, die auf eine Radikalisierung von Meinungen abzielen, indem extreme Inhalte User an das eigene Geschäftsmodell binden sollen. Die Welt wird so schwarz-weiß und die vielen Grautöne dazwischen verblassen. All das muss ein Rechtsstaat für seine Genese bedenken, andernfalls behält Seehofer Recht. Nur dann ist es er selbst, der sich verzockt.
Eine Gesellschaft muss Intoleranz, Diskriminierung und Gewalt nicht hinnehmen. Du kannst selbst als Anti-Hate-User*in im Netz tätig werden und gegen rechte Hetze etwas tun. Du bist damit keinesfalls allein. Es gibt viele Möglichkeiten sich zu engagieren, zusammen mit vielen Gleichgesinnten.
// Die Bundeszentrale für politische Bildung
Wenn du mehr über das Thema Rechtsextremismus im Allgemeinen und im Netz wissen willst, kannst du auf das Angebot der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) zurückgreifen. Eine Übersicht zu den angebotenen Essays, Dossiers und anderen Informationen findest du hier.
// Das No-Hate-Speech-Movement
Die Bewegung sagt über sich selbst: „Das No Hate Speech Movement Deutschland bündelt die gesammelte Energie aller, die sich gegen Online-Hetze engagieren.“ Diese Energie ist gewaltig. Du findest dort jede Menge Informationen über Anlaufstellen, die dich dabei unterstützen können, sich selber gegen Hetze zu engagieren. Zur Bewegung geht es hier.
// Der Helpdesk gegen Hate-Speech
Was tut man, um sich selbst gegen Hetze, der sogenannten Hate-Speech, im Netz zu schützen? Das gemeinnützige Projekt No Hate Speech Movement der Neuen deutschen Medienmacher hat zur Beantwortung solcher Fragen einen Online-Helpdesk geschaffen. Bist du betroffen, liefert er dir Sofort-Hilfe, aber zeigt dir auch, wie du dich davor schützen kannst und was du danach tun kannst und wer dir dabei,wie helfen kann. Zum Helpdesk geht es hier.
// #ichbinhier
Zu Partizipation und Gleichbehandlung gehört genauso die Diskussion. Diese können rechtes Gedankengut im Keim ersticken. Die Facebook-Gruppe „#ichbinhier“ fördert dabei eine überparteiliche, positive, konstruktive und faktenbasierte Debattenkultur. Mitmachen kannst du hier.
(c) Titelbild: Jeremy Lishner