Warum können Hearables nicht wie Brillen einfach als Modeaccessoires gelten?
Viele Feinheiten von Sinneseindrücken bemerkt man gar nicht, bis sie einem fehlen. So geht es vielen Menschen, die auf ein Hörgerät angewiesen sind: Diese sind oft schlicht nicht in der Lage, den von einem gesunden Gehör produzierten Sinneseindruck zu reproduzieren. Menschen mit Höreinschränkungen probieren sich oft jahrelang durch verschiedene Hörgerät-Typen, sind dabei aber mit vielfältigen Problemen konfrontiert: So können Hörgeräte schmerzen, blöd aussehen oder einen nicht die Dinge hören lassen, die man hören wollte. Eine Gruppe von Menschen mit und ohne Höreinschränkungen haben sich im Rahmen des bürgerwissenschaftlichen Projekts „Hear How You Like To Hear“ daran gemacht, ihre Bedürfnisse ans Hören zu erforschen und Grundlagen für das Hearable der Zukunft zu entwickeln.
Das Projekt „Hear How You Like To Hear” ist am Fraunhofer IDMT angesiedelt und wird von der Informatikerin und Künstlerin Peggy Sylopp geleitet. Im Mittelpunkt stehen dabei subjektives Hören, Bedürfnisse und Wünsche der User*innen mit und ohne Höreinschränkungen. Für die Anwendung in alltagsakustischen Umgebungen entwickelte das HHYL2H-Team die intuitive liketophear-App und eine stabile 3D-gedruckte Box. So konnten die Mitforschenden Open Source Hörgeräte-Algorithmen auf einem Raspberry Pi steuern. Konkret ermöglichte das den Interessierten die Mitarbeit an der Algorithmenentwicklung sowie die Sammlung ihrer Bedürfnisse zu Aussehen und „Kompetenzen“ des Geräts an sich. In Zukunft sollen Nutzer*innen im Alltag ihren Hörgerätealgorithmus damit auch ohne professionelle Hilfe anpassen können.
Grundlagenforschung für das Hearable der Zukunft
Ein Teil des Projekts fand als konkrete Feldforschung statt: Ausgestattet mit der Box und App erprobten Interessierte den Prototyp in Alltagsumgebungen. Auf Basis deren Rückmeldungen und Erfahrungen damit wurde erfasst, welche Features notwendig sind und was weiter verbessert werden sollte. Eine grundlegende Frage war dabei: Was erwartet man sich eigentlich vom Hören? Die Interessent*innen testeten das Gerät sowohl im Außenraum als auch im Restaurant in einer Gesprächssituation mit Geräuschkulisse und passten dabei das Gerät individuell an ihre Bedürfnisse an. Somit erlangten die Projektleitenden einen Überblick, was die Teilnehmer*innen in bestimmten Soundumgebungen eingestellt haben. Dabei war sowohl die erfasste Klangumgebung mit den jeweiligen Anpassungen, die zum besseren Hören daran gemacht wurden, relevant, als auch deren Verbindung zur Persona von den Leuten, also die ungefähre Einschätzung des jeweiligen Hörvermögen: trägt Hörgerät, ist technik-affin, wünscht sich bestimmte Sachen vom Hören oder vom Hearable. Insgesamt haben bei dieser Feldforschung etwa 60 Early Adopters mitgewirkt. Weitere Bereiche des Projekts waren ein Online-Fragebogen, Hackathons mit Workshops und Austauschrunden und „Maker“, die selbst an der Weiterentwicklung der Geräte im physischen Sinne arbeiten.
Die Projektleiterin Peggy Sylopp beschreibt dabei auch auftretende Probleme: „Es fehlt da oft an Kommunikation zwischen Wissenschaft und Gesellschaft. Nehmen wir zum Beispiel mal Hörgeräte im Bereich Hörtechnologie: wie die entwickelt wurden, welche Ideen, Algorithmen, Regelwerke dahinter stecken, das hat eine lange Geschichte aus Sicht der Wissenschaft und neue Entwicklungen stehen damit in diesem Kontext. Personen aus der „normalen“ Gesellschaft, auch die, die diese Entwicklungen vielleicht bereits nutzen, wissen aber meist relativ wenig darüber. Das sieht man dann in der Praxis: es gibt ein Riesendefizit an Grundlagen, wie überhaupt an Hörforschung ranzugehen wäre, wie die Hörforschung bisher konzipiert ist und wie sie zu begreifen ist.“ Diese zu vermitteln, erforderte ein neues Selbst-Verständnis der Interessent*innen: Statt als Proband*innen ein Produkt zu rezensieren, beteiligten sich die Nicht-Berufswissenschaftler*innen hier an Grundlagenforschung. Diese neue Rolle erforderte auch Geduld, weil die Teilnehmenden nicht ein fertiges Produkt, sondern die Entwicklung der wichtigen Forschungsfragen und die Artikulierung der Anforderungen an ein Hearable der Zukunft entwickelten.
Technische Möglichkeiten, Erwartungen und Wirklichkeit sind oft widersprüchlich zueinander
Peggy Sylopp spricht dabei auch die Erwartungshaltung an die Technik an: „Es wird ganz viel kommuniziert, auch von Werbung und Wissenschaft, was die Technik alles lösen kann: Sie kann für dich denken, kann das Gehirn auslesen – genau genommen stimmt das aber so alles nicht. Was auch ein wenig fehlt, ist eine ehrliche, transparente, diskursive Kommunikation über das, was zum Beispiel Technik, IT, wirklich kann und was sie nicht kann. Also da werden noch viel zu viel Ideen und Erfolge gefeiert, die eigentlich aber nur in kleinen Bereichen und ganz dezidierter Anwendung funktionieren. Da gibt es diese riesige Erwartung, dass es sich damit total gut anhört, dass ich damit alles Mögliche steuern kann und dies und jenes, das ist aber eigentlich in diesem Sinne gar nicht machbar, aus einem komplexen Anforderungsstrauß heraus.“
Die Eindrücke der Teilnehmenden an der Feldforschung wurden mit einer Online-Umfrage angefüttert. In dieser wurde abgefragt, welche Wünsche und Erwartungen man an ein tragbares Gerät zum Hören hat, welche Erfahrungen man dazu bereits gesammelt hat und welche weiteren Ideen dabei bereits aufkamen. Mit 650 Teilnehmenden wurde damit eine breite Basis an Eindrücken und Bedürfnissen erfasst.
In der Erforschung von technischen Möglichkeiten war ein weiterer Teil des Projekts angesiedelt: Es fanden zwei Hackathons mit verschiedenen Workshops statt, in denen es darum ging, ganz praktisch Produkte für Anwendungen zu konzipieren und in den Austausch zwischen Anwender*innen und Entwickler*innen zu gehen. Der erste Hackathon war dabei eher spielerisch angesetzt: Die praktische Anwendung von Hearables im Alltag wurde behandelt. Die Teilnehmenden tauschten sich dabei über Bedürfnisse, Möglichkeiten und aktuelle Schwierigkeiten aus.
Im zweiten Hackathon wurden Expert*innen aus dem Audio-Bereich, aus der Hörgeräteentwicklung, aus der Industrie und aus der Hacker- und Makerszene eingeladen. Die Projektleiterin beschreibt diese als „zwei Tage sehr intensiven Austausch. Das war wirklich spannend, wie groß das Bedürfnis ist, sich aus den verschiedenen Ebenen auseinanderzusetzen. Da sind die Wissenschaftler mal greifbar für die Leute, die die Probleme haben. Anfangs haben viele nicht verstanden, was jetzt beispielsweise die Entwicklung von Lautsprecherboxen mit dem Hörproblem zu tun haben. Am Ende der zwei Tage war es dann aber für alle klar, worin die Nähe zwischen Klangqualität, Hearable und Hörunterstützung liegt. Für mich war das ein sehr wichtiges Thema, diesen scharfen Schnitt zwischen disabled – also Behinderung, Hörschwäche – und gutem Hören aufzulösen, und da weicher ranzugehen: was kann ein Hearable? Was ist gut für Leute mit Hörproblemen, aber auch für andere? Zum Beispiel hilft diese Funktion der Geräuschunterdrückung auch Leuten, die relativ normal hören können im Gespräch, weil sie damit weniger Höranstrengung haben. Andererseits heißt das für jemanden, der ein Hörproblem hat, dass er überhaupt was verstehen kann oder viel besser verstehen und damit überhaupt an Gesprächen teilnehmen kann. Da ging es also darum, diesen offenen Diskurs zu starten, das war auch nochmal eine andere Ebene“.
Hemmschwellen überwinden
Mit dem Ziel der Forschung von „Hear How You Like To Hear“, neue Impulse für die Entwicklung von Hörunterstützungen zu geben und dabei das Wohlbefinden der Betroffenen in den Mittelpunkt zu stellen, soll das Selbstbewusstsein von Menschen mit Höreinschränkungen gestärkt und ihr soziales Umfeld zu einem bewussten Umgang ermutigt werden. Denn der Umgang mit einem Hörgerät erfordert oft das Überwinden großer Hemmschwellen: Bei der Erstnutzung schon sich länger graduell verstärkender Hörschwäche erscheinen Töne, die schon lange weg waren, neu: das ist ungewohnt, fast störend. Zum anderen ist das Sichtbarmachen dieser Schwäche, die nun Teil von einem ist und Selbstvertrauen voraussetzt, ein schwieriger Schritt.
Das gelingt den Teilnehmenden auch dadurch, dass sie neben dem, was Hörgeräte können sollen, auch erforschen, wie diese aussehen könnten. Für viele Menschen mit Höreinschränkungen ist es wichtig, dass das Gerät sichtbar ist. Schwerhörigkeit erfordert auch von der Umgebung eine Umstellung im Umgang miteinander. Wenn das Gegenüber bemerkt, dass der/ die* Gesprächspartner*in eingeschränkt hört, kann ein Gespräch unter günstigeren Bedingungen stattfinden. Deshalb ist für manche Betroffene wichtig, dass das Gerät sichtbar ist. Andere arbeiten an einer neuen Auffassung von Höreinschränkungen: Während Brillen selbst als modische Accessoires breit akzeptiert sind, werden Hörgeräte oft versteckt. Die Teilnehmenden des zweiten Hackathons entwickelten daher beispielsweise als Lösung ein Haarband in Kombination mit einem Fingerring, in dem ein Mikrofon eingebaut ist.
Mit partizipativer Forschung gesellschaftliche Herausforderungen angehen
Aktuell befindet sich das Projekt in der Auswertungsphase. Hear How You Like To Hear wurde im Rahmen des Förderbereichs Bürgerforschung vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert. Es gehört zu 13 Projekten, die bis Ende 2019 die Zusammenarbeit von Bürger*innen und Wissenschaftler*innen inhaltlich und methodisch voranbringen und Antworten auf gesellschaftliche Herausforderungen geben sollen.
Die Projektleiterin Peggy Sylopp betont die Vorteile partizipativer Forschung. Ihr war in allen Phasen des Projekts besonders wichtig, die Teilnehmer*innen als Mitforschende, nicht als Proband*innen wahrzunehmen, während sie betont, dass diese Vereinfachung natürlich aus Perspektive der Forschung, die ein Problem lösen will, zielführend ist. Obwohl Hear How You Like to Hear unkonventionelle Herangehensweisen nutzt, wird es am Institut ernst genommen und als relevanter Teil der Forschung gesehen. Peggy Sylopp sieht das als Teilerfolg für Citizen Science-Ansätze: „Ich würd behaupten, dass es sowas in allen Bereichen gut wäre, dass wirklich rausgegangen wird und die Sachen so frei gelassen werden, dass nicht nur Daten gesammelt werden, sondern auch Erfahrungen mit Forschung gesammelt werden. Es geht ja auch darum, dass Forschung neu gedacht wird und die konventionellen Forschungsideen oder deren Herangehensweisen nochmal neu gedacht werden, neu erprobt werden. Vielleicht können ja so nochmal neue Anstöße reingegeben werden, die mehr die subjektive Sicht von Usern oder von Betroffenen berücksichtigen. Das halte ich auch für eine grundlegende ethische Frage.“