Die Baubranche gehört zu den größten Ressourcen- und Energieverbrauchern weltweit: ein Interview über die Rolle der Wissenschaft bei der Entwicklung von Konzepten mit dem Ziel, Bauen nachhaltiger zu gestalten.
Prognosen zufolge wird sich die Stadtbevölkerung bis 2050 weltweit von heute knapp 4 Milliarden auf 6,5 Milliarden Menschen vergrößern. Etwa zwei Drittel der Menschheit wird dann in Städten leben und auf eine entsprechende urbane Infrastruktur angewiesen sein. Der Trend zur Urbanisierung ist weltweit spürbar – etwa in gesteigerten Bauaktivitäten. Aber bereits jetzt ist der Bau- und Gebäudesektor in Europa für fast die Hälfte des Ressourcen- und Energieverbrauchs, ein Drittel des Wasserverbrauchs und ein Drittel des Abfallaufkommens verantwortlich. Ob der Menschheit ein gesellschaftlicher Wandel hin zu mehr Nachhaltigkeit gelingt, wird sich also maßgeblich in Städten entscheiden. Kann es gelingen, die Umweltauswirkungen im Gebäudesektor zu minimieren und gleichzeitig einer steigenden Anzahl von Menschen den nötigen Raum für ein gutes und gerechtes Leben bieten? Gerade der universitären Forschung kommt dabei eine herausragende Rolle zu, Lösungen für diese Herausforderungen zu entwickeln. Wir haben mit Christian Hepf, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Gebäudetechnologie und klimagerechtes Bauen von Professor Thomas Auer der Technischen Universität München über die Forschung im Kontext zum nachhaltigen Bauen gesprochen.
relaio: Die Baubranche ist der Wirtschaftszweig, der weltweit einen Großteil vorhandener Ressourcen verbraucht, einen hohen Anteil an Treibhausgasen ausstößt und für ein hohes Abfallaufkommen sorgt: Welche Strategien existieren, um Bauen nachhaltiger zu gestalten?
Christian Hepf: Es gibt hier ganz verschiedene Herangehensweisen, daher lohnt sich zunächst einmal ein Blick auf die Ausgangssituation. Wenn man sich in internationalen Großstädten umsieht, egal ob das Helsinki, London oder Abu Dhabi ist, dann sieht man vor allem eins: Das Gleiche. Gläserne Hochhäuser – die sich vielleicht von Land zu Land in ihrer Höhe übertreffen – aber die gleichen Charakteristika aufweisen, unabhängig von den lokalen klimatischen Bedingungen. Die Gebäude müssen gekühlt, beheizt und mit Frischluft versorgt werden. Das erfordert eine aufwändige Anlagetechnik und viel Energie, um den lokalen, thermischen und visuellen Komfort für den Nutzer herzustellen. Die Gebäude erfordern zudem große Mengen an energieintensiven oder schwer zu recycelnden Rohstoffen wie Stahl, Glas und Beton. Sie gelten oftmals als Sinnbild einer modernen, westlichen Architektur, aber die Wahrheit ist, dass dadurch oft einfachere, dem lokalen Klima besser angepasste Materialien und Bauformen verdrängt werden. Das hat den Effekt, dass der Ressourcen- und Energieverbrauch sowie das Abfallaufkommen steigen.
Beim nachhaltigen Bauen geht es jetzt aber nicht darum, reinen Tisch zu machen und Gebäude mit möglichst geringen Umweltauswirkungen neu zu errichten. Es geht darum, sich mit unserer bestehenden, gebauten Umwelt auseinanderzusetzen und Zusammenhänge von Architektur und Technik, von Gebäude und Stadt zu erkennen. Es geht darum, dass Stadtplaner, Architekten und Ingenieure versuchen ihre Planungen an die lokalen Bedingungen anzupassen und gemeinsam einfache, flexible und robuste Lösungen für komplexe Zusammenhänge finden. Wir müssen ein ganzheitliches Verständnis für unsere gebaute Umwelt finden und diese dann entsprechend optimieren.
Wie muss man sich diese ganzheitliche Herangehensweise vorstellen?
Zu allererst natürlich einmal ganzheitlich im Sinne der drei Säulen der Nachhaltigkeit: ökologisch, ökonomisch und sozial. Man muss sich fragen: Wenn ich ein Wohngebäude saniere, verbessert sich dann die Ökobilanz? Lohnt sich das Investment für den Eigentümer? Führen die Kosten eventuell zu einer sozialen Verwerfung, weil die Kosten auf den Mieter umgelegt werden und er sich die Wohnung nicht mehr leisten kann?
Ganzheitlich bedeutet aber auch, den gesamten Lebenszyklus eines Gebäudes zu betrachten. Das beginnt mit der Rohstoffgewinnung, der Herstellung von Baustoffen und -teilen sowie der Planung und Errichtung des Gebäudes. Wie viel Energie wird während des Baus verbraucht – wie viel im Betrieb? Wie wirkt sich eine Sanierung aus? Kann das bestehende Gebäude für eine Umnutzung mit neuen Anforderungen adaptiert werden? Es geht aber nicht nur um Energie, sondern auch um Materialflüsse: Was passiert beim Abbruch des Gebäudes? Können einzelne Bauteile rückgebaut und wiederverwendet oder die Baustoffe recycelt werden, kommt es zu einem Downcycling oder müssen die Stoffe sogar als Sondermüll deponiert werden? Bedenkt man im Vorfeld den ganzen Lebenszyklus eines Gebäudes, kann man versuchen, Materialen auf eine langfristige Nutzung und Wiederverwendung auszulegen, so dass sich idealerweise eine Kreislaufnutzung ergibt.
Darüber hinaus kann man das Gebäude als Baustein auf verschiedenen Ebenen des urbanen Lebens betrachten. Ein Gebäude steht nie alleine da, es wirkt immer auf seine Umgebung. Es ist Teil eines urbanen Systems, Teil eines Quartiers und auch die einzelnen Teile eines Gebäudes wirken aufeinander. Auf urbaner Ebene betrifft das viele politische, kulturelle und soziale Fragen. Wenn ich in die gebaute Umwelt eingreife, was löse ich damit aus? Erzeuge ich andere Mobilitätsmuster oder treibe ich zum Beispiel die Gentrifizierung voran? Auf Quartiersebene steht das Gebäude im Austausch mit einer begrenzten Zahl von anderen Gebäuden. Wird ein historisches Ensemble und damit ein Stück lokaler Identität zerstört? Oder sorge ich durch Begrünung für eine Verbesserung des Mikroklimas in der Nachbarschaft? Diese Fragen setzten sich im Gebäude fort. Kann ich Energieflüsse im Gebäude möglichst effizient aufeinander abstimmen und durch Synergieeffekte den thermischen Komfort der Nutzer verbessern und dabei sogar Energie einsparen?
Coffee-to-go-Becher, Autos mit Verbrennungsmotoren oder Billigfleisch stehen vielmehr in der öffentlichen Debatte um Nachhaltigkeit als der Bausektor. Dabei wäre hier aber die Hebelwirkung viel größer?
So ein Coffee-to-go-Becher ist etwas sehr Unmittelbares. Ich kaufe ihn, benutze ihn für ein paar Minuten und bekomme sehr schnell das Feedback: Der Becher landet im Müll. Beim Bauen ist die Perspektive sehr viel länger – oft fällt der Abriss oder eine veränderte Nutzung eines Gebäudes gar nicht in die Lebenspanne der Erbauer oder Planer. Feedback kommt also oft erst nach vielen Jahren, wodurch Entscheidungen über die Veränderungen oder das Ende der Nutzung bei der Planung zum Teil nur eine untergeordnete Rolle spielen. Aber auch wenn versucht wird an dieser Stelle vorzudenken und beispielsweise möglichst energieeffizient zu bauen, gilt es in der Baubranche die sogenannte Performance Gap zu schließen. Diese beschreibt den Unterschied zwischen der ursprünglich geplanten Zielgröße und der tatsächlichen Performance im Betrieb eines Gebäudes. Durch eine Vielzahl von Einflussfaktoren, unter anderem mangelnde Kommunikation zwischen Planern, aber auch durch fehlende Bauqualität entstehen hier oft sehr große Differenzen. Was zum Beispiel dazu führt, dass mitunter Gebäude mit herausragendem Nachhaltigkeitszertifikat ihre geplant niedrigen Energieverbrauchswerte im Betrieb nicht ansatzweise erreichen.
Vor allem aber ist Bauen ein komplexes Zusammenspiel von verschiedensten Akteuren, da kann ich als Einzelperson nicht so einfach durch meine Entscheidung einen Unterschied machen, wie das vielleicht beim Coffee-to Go Becher der Fall ist. Oftmals spielt für den Architekten die Ästhetik eine viel größere Rolle als die spätere Entsorgung der Baustoffe und für den Investor sind möglichst geringe Baukosten wichtiger als später einmal der Energieverbrauch, gerade wenn die Energiepreise niedrig sind. Deswegen ist es wichtig, hier Expertenwissen einzubringen und konsequent interdisziplinär zusammenzuarbeiten. Hier an der Universität arbeiten wir interdisziplinär mit anderen Lehrstühlen und Fachrichtungen zusammen. So sind wir etwa im Zentrum für nachhaltiges Bauen vertreten, einem Zusammenschluss aus mehreren Lehrstühlen der Fakultäten Architektur, Ingenieurwesen sowie Elektro- und Informationstechnik.
In der freien Wirtschaft spielen solche Ansätze aber leider noch eine eher untergeordnete Rolle und gerade als Privatperson hat man vor dem Hintergrund einer steigenden Urbanisierung mit dem Bau oft gar nichts mehr zu tun: Man kann sich auf angespannten Wohnungsmärkten nicht aussuchen wo man wohnt und ob man Klimagesichtspunkte in seine Wohnungswahl mit einbezieht. Da kann ich als Nutzer keinen Druck aufbauen, was sich natürlich auch auf die öffentliche Debatte durchschlägt. Das heißt aber nicht, dass ich als Privatperson nichts damit zu tun habe. Ich kann im Haushalt Energie einsparen und durch einen pfleglichen Umgang für Langlebigkeit sorgen. Und ich kann mich mit der Frage der Suffizienz auseinandersetzen. Wie viel Platz benötige ich wirklich? Brauche ich im Alter eine ganze Wohnung in der Stadt, ist ein Einfamilienhaus notwendig?
Die Carbon Roadmap der EU sieht vor, dass im Vergleich zu 1990 die CO2-Emissionen des Gebäudesektors bis zum Jahr 2050 um 90 Prozent reduziert werden: Wie sieht eure Arbeit hierzu aus, welche Strategien habt ihr?
Wir sind hier am Lehrstuhl ein interdisziplinäres Team mit mehr als 20 wissenschaftlichen Mitarbeitern mit unterschiedlichen fachlichen Hintergründen wie Architektur, Bau- oder Umweltingenieurwesen. Grundsätzlich kann man unsere Tätigkeiten in zwei Felder gliedern: Lehre und Forschung. Die Lehre ist ein ganz wichtiger Teil unserer Arbeit mit dem Ziel, angehenden Architekten und Ingenieuren ein Verständnis für klimagerechtes Bauen und praktisches Methodenwissen mitzugeben. Vor allem aber ist uns wichtig, das interdisziplinäre Zusammenarbeiten im Planungsprozess von Anfang an in die Ausbildung zu integrieren.
Die Forschung findet anwendernah und praxisorientiert statt – deswegen unterscheiden sich auch hier die Herangehensweisen je nach Projekt ganz stark. Generell spielen aber die Universitäten eine ganz zentrale Rolle dabei, den Bauprozess nachhaltiger zu gestalten, da hier der finanzielle Profit nicht im Vordergrund steht. Ideen können so erst einmal ausprobiert werden und Erfahrungen in kleineren Testumgebungen gesammelt werden. Damit unterstützen wir dann innovative Architekten und Bau- oder Ingenieurunternehmen, die an der Grenze von gesetzlichen Richtlinien und bestehenden Baunormen an neuen Konzepten arbeiten.
Wie sehen solche Forschungsprojekte dann aus?
Eines meiner aktuellen Projekte adressiert die Fassade von Gebäuden. Die ist im Bauwesen von ganz maßgeblicher Bedeutung. Sie repräsentiert das Gebäude nach außen – ist aber auch aus Umweltgesichtspunkten sehr bedeutend: vier Prozent des gesamten Energieverbrauchs in Europa sind auf Wärmeverluste über Fernster zurückzuführen. Gleichzeitig führt die Sonneneinstrahlung dazu, dass ein Sonnenschutz angebracht und gekühlt werden muss, um den visuellen und thermischen Komfort für den Nutzer bereitzustellen. Das kostet Energie, beeinträchtigt die Form der Fassade und ist wartungs- und reparaturintensiv. Wir machen gerade Versuche mit speziellen Fensterverglasungen. Diese kombinieren eine Heat-Mirror Folie, welche die Isoliereigenschaft der Scheibe optimiert, mit einer elektrochromen Scheibe, die beim Anlegen einer sehr geringen elektrischen Spannung die Lichtdurchlässigkeit verändert. Je nach Bedarf kann Licht und somit Energie hineingelassen werden, was unter Umständen Heizung oder künstliches Licht überflüssig macht oder die Scheibe verdunkelt werden, was Kühlung und zusätzlichen Sonnenschutz unnötig macht. Der Fokus des Projektes liegt dabei auf der Entwicklung einer intelligenten Steuerung der dimmbaren Scheibe, sodass die Fassade sich smart an die lokalen Wetterbedingungen anpassen kann. Das Projekt geht sogar noch einen Schritt weiter und versucht wetterprädikativ, also vorrausschauend, zu handeln um zusätzlich noch Energieeinsparungen erzeugen zu können. Das klingt jetzt zunächst nach einer hochkomplexen Lösung. Die Einfachheit besteht aber darin, dass ich so die ohnehin vorhandene Sonnenstrahlung als Energiequelle nutzen kann und so auf eine umfangreiche Anlagentechnik verzichtet werden kann.
In einem weiteren Projekt begleiten wir die Errichtung der Firmenzentrale einer großen Bio-Supermarktkette. Ein Großteil des Gebäudes wurde aus Stampflehm errichtet, der direkt aus der Baugrube gewonnen und auch im Falle des Abrisses des Gebäudes einfach wiederverwendet werden kann. Der gesamte Lebenszyklus des Gebäudes ist so mit einem sehr geringen Energieaufwand verbunden. Lehm kann aber auch besonders gut Feuchtigkeit aus der Raumluft aufnehmen und abgeben, was natürlich regulierend auf das Raumklima wirkt. So können wir die Gebäudetechnik auf ein Minimum reduzieren. Wir als Wissenschaftler führen dazu Messungen durch, um die begrenzte Datengrundlage zu Stampflehmbauten zu erweitern. Das Gebäude kann so zu einem Vorbild für nachhaltiges Bauen werden.
Durch die Entwicklung intelligenter Fassadenverglasungen kann Energie eingespart werden. (c) Christian Hepf
Ganz oft müssen wir uns aber mit Bestandsgebäuden auseinandersetzen, da müssen wiederum ganz andere Strategien her. So zum Beispiel ein Projekt, das wir in Kooperation mit der TU Delft durchführen. Es adressiert das Problem der im europäischen Raum sehr geringen Renovierungsraten. In den Niederlanden leben zum Beispiel ungefähr 50 Prozent der Bevölkerung in Nachkriegsgebäuden aus den 1950ern bis 1970ern Jahren, die dringend eine energetische Sanierung benötigen, wenn wir die Klimaziele für 2050 einhalten wollen. Eine Renovierung krankt aber oft an der Frage eines mangelnden Zuständigkeitsgefühls – der Hausbesitzer müsste dafür ein beträchtliches Investment aufbringen. Im Projekt Leasing Fassade wird die Sanierung in Form einer modularen Fassade von einer externen Firma bereitgestellt, die sich gegen eine regelmäßige Leasingrate um die Produktion, Instandhaltung und irgendwann auch die Weiterverwertung kümmert. So wird nicht nur eine optimale Nutzung der Baustoffe über den Lebenszyklus erreicht, sondern auch die anfängliche Investitionshürde entschärft und eine Kreislaufwirtschaft im Bauwesen vorangetrieben.