Wie sich gesellschaftliche Missstände nicht nur vermindern, sondern beheben lassen.
Es könnte alles so schön sein: Fossile Brennstoffe liefern uns die Energie für grenzenlose Mobilität, Konzerne mit neunstelligen Gewinnsummen schaffen, dank stetig steigender Produktion, mehr und mehr Arbeitsplätze und sorgen so für Wohlstand und unser tägliches Wohlergehen. Doch der Konjunktiv ist verräterisch: denn die Wahrheit – das heißt die Welt in der wir leben – sieht anders aus. Der Abbau von Braunkohle und Erdöl zerstört uralte Infrastrukturen von Mensch und Natur und der Aberglaube von der Notwendigkeit eines über allen Dingen stehendenden Wirtschaftswachstums bringt die ökologischen, ökonomischen und sozialen Strukturen, in denen wir leben, ins Schwanken.
Ein Fehler im System
Diese Strukturen bestehen aus wechselseitigen, voneinander abhängigen Beziehungen verschiedener Elemente, aus deren Art der Verknüpfung bestimmte Regeln, Normen und Prinzipien resultieren und letztlich ein System bilden. Systeme bergen also die Gefahr selbst fehlerhaft zu sein oder Fehlverhalten zu ermöglichen, was wiederum anderen Elementen des gleichen oder eines verknüpften Systems schadet. So wurden beispielsweise Finanzsysteme vermeintlich immer effizienter, was jedoch daran lag, dass sie sich durch Spekulationen immer mehr von der Realwirtschaft lösten und mittlerweile viel mehr eine Gefahr für unser Wirtschaftssystem darstellen, als zu dessen nachhaltiger Existenz beizutragen.
We can define systemic innovation as an interconnected set of innovations, where each influences the other, with innovation both in the parts of the system and in the ways in which they interconnect.
Geoff Mulgan & Charlie Leadbeater
Das große Ganze
Zugegeben, neu ist das nicht. Außerdem haben Social Entrepreneure bereits unzählige Tools und Konzepte entwickelt, die ein derartiges Fehlverhalten beheben sollen, indem sie etwa die Effizienz von Elektromotoren steigern, Altes zu Neuem upcyclen oder eben nachhaltige Banken gründen. Das ist wichtig und richtig, vor allem aber schwierig. Denn will ein Social-Start-Up innerhalb eines Systems eine soziale Wirkung erzeugen, gelingt das meist nur, indem man ein Projekt skaliert. Doch ein Skaleneffekt lässt oft lange auf sich warten, da das dazu nötige Kapital erstmal verdient werden muss und selbst danach der Einfluss des jeweiligen Produkts oder Dienstleistung sich oft auf das unmittelbare Umfeld des Start-Ups beschränkt. Das liegt mitunter daran, dass ein Blick für das große Ganze dem Fokus auf den Erfolg des eigenen Unternehmens zum Opfer fällt oder die soziale Wirkung nicht über die Unternehmensgrenzen hinausgeht, da es keine Strahlkraft auf andere Elemente eines Systems besitzt. Problematisch ist also: So gut ein Social-Start-Up auch agiert, es lindert oft nur die Folgen, heißt, die Symptome eines systembezogenen Fehlverhaltens, nicht aber dessen Ursachen.
Was also tun? Eine Antwort liegt in der Generierung eines „System Change“. Er umfasst eine Änderung oder Neuschaffung von Interaktionsmustern, also der Zusammensetzung des Systems an sich, sowie der Art und Weise wie seine einzelnen Bestandteile darin miteinander kommunizieren. Erreicht werden kann das vor allem mit einer Reihe von Innovationen, die sich auf alle Bestanteile eines Systems auswirken, sie gegenseitig beeinflussen und langfristig ihre Regeln, Normen und Werte so gestalten, dass sie mit dem Prinzip der Nachhaltigkeit vereinbar und funktionstüchtig sind.
Eine neue Generation
Um dieses Ziel zu erreichen, kommt „System Entrepreneurship“ ins Spiel. Dafür arbeiten System Entrepreneure aktiv daran, Paradigmen in verschiedenen Bereichen sozialer Systeme – wie Politik, Kultur und Wirtschaft – so zu verändern, dass gesellschaftliche Innovationen langanhaltend und systemisch übergreifend etabliert werden. Vorweg: Das schließt die Entwicklungen von nachhaltigen Produkten und Dienstleistungen nicht aus, vor allem dann nicht, wenn sie ein Mittel zum systemischen Zweck sind, denn sie können einen umfassenden Impact auf andere Systemelemente erzielen und so grundlegende, normative Strukturen eines Systems zum Positiven verändern. Wie das ganz konkret in der Realität aussehen kann, zeigt das Münchener Start-Up Sono Motors. Begonnen als Bastler-Projekt in der eigenen Werkstatt zweier Schulfreunde, ist daraus innerhalb weniger Jahre ein Unternehmen entstanden, das mit dem Sion – ein marktreifes Elektroauto entwickelt hat. Das kann nicht nur zur Reduzierung des Schadstoffausstoßes beitragen, sondern mithilfe einer zusätzlich integrierten und simplen Handy-App zum Mietwagen, zur Mitfahrgelegenheit oder sogar zu einer autarken Stromquelle werden. Das verändert die kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Interaktionen eines Systems, indem vorhandene Akteure ihre Rollen tauschen oder neue einnehmen und damit die Chance entsteht, fehlerhafte Systemstrukturen in Hinsicht auf Mobilität, Energiewirtschaft und deren politischen Gestaltung grundlegend neu zu gestalten.
Aber welche Qualitäten werden benötigt, um Schritt für Schritt gesellschaftliche Bereiche in einem Ausmaß zu verändern, das über die Reichweite einer einzigen Organisation hinausgeht? Die Bewegungen aufbauen können und alle betroffenen Stakeholder erfolgreich in kollaboratives Handeln einbinden?
Schritt für Schritt zum System Entrepreneur
Erstens: Die eigenen Potentiale kennen
Zugegeben, ressourcenverschlingende Industriesysteme oder ein komplexes Gesundheitssystem nachhaltig umzugestalten ist nicht leicht. Umso wichtiger ist es, von Beginn an zu klären, ob das eigene Vorhaben überhaupt das Potential besitzt, ein Türöffner für einen Systemwandel zu sein. Um das zu prüfen, sollte man sich folgende Fragen stellen:
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Kann mein Vorhaben einen echten Wandel initiieren, indem ich mit dem Status Quo eines Systems breche und nicht nur die vorherrschenden Gegebenheiten verbessere?
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Kann ich mit meinem Vorhaben aktiv einen Systemwandel mitgestalten und die für einen Wandel benötigten Ressourcen bündeln und steuern?
Dazu gehört auch, die Art des anvisierten Systems zu bestimmen. Nur so lässt sich erkennen, ob ein hypothetisches Potential auch in der Realität Bestand hat. Denn es ist nicht unwichtig, ob ein System komplex oder einfach, geschlossen oder offen, lebend oder mechanisch ist. So kann eine neue Technologie mit einer guten Idee in der Realität trotzdem scheitern, da sie aufgrund der Geschlossenheit eines Systems von außen keine innovative Wirkung entfaltet. So ist vielleicht die für den Systemeintritt oder -Anschluss benötigte Infrastruktur nicht vorhanden oder es fehlen die finanziellen Mittel um sie aufzubauen. Währenddessen können andere Ideen sich zwar an bestehenden Infrastrukturen bedienen, laufen aber dort möglicherweise Gefahr, aufgrund mangelnden Know-hows, die Situation eines komplexen Systems nicht ausreichend analysieren und steuern zu können und somit wichtige Faktoren wie eine Marktakzeptanz zu gering ausfallen.
Zweitens: Die Umwelt und sich selbst reflektieren
Ein System zu verändern oder neu zu etablieren bedeutet auch, eigene Denkmuster und die des Systemumfelds zu durchbrechen, um Platz zur Selbstreflexion und Toleranz für Neues zu schaffen. Kein leichtes Unterfangen. Wir werden in Systeme hineingeboren: Ganz gleich ob Kapitalismus oder parlamentarische Demokratie, Bildungssysteme und Industrien – sie werden über Generationen weitergegeben und ihr Narrativ nicht weiter hinterfragt. Nur, anthropogene Systemmechanismen sind keine in Stein gemeißelten Naturgesetze. Wer Denkmuster durchbrechen will, muss zunächst mit den eigenen beginnen. Das funktioniert indem System Entrepreneure mit dem geistigen Auge über die Grenzen eines Systems hinausgehen. Nur so lässt es sich auch als Ganzes sehen, als Ganzes verstehen und mit Alternativen vergleichen. Ein Blick in die Geschichte, also auf die Ursachen zur Entstehung von Systemstrukturen, ist ein geeignetes Mittel dafür. So eine Reflexion zeigt, dass Systeme endlich sind, indem sie auf den Beginn – folglich auf die Grenzen eines Systems – schaut und somit ein Vorher-Nachher-Sichtweise ermöglicht, die Strukturen leichter nach Moral und Zweckmäßigkeit bewertbar macht.
Nicht minder wichtig ist die Reflexion des eigenen Verhaltens in einem System. Nur wer bereit ist, seinen eigenen Ansichten den Spiegel vorzuhalten, ist auch bereit andere Sichtweisen zuzulassen und sie gemeinsam zu diskutieren. Eine tiefe, gemeinsame Reflexion ist ein entscheidender Schritt, um Gruppen oder einzelne Personen in die Lage zu versetzen, einen Standpunkt zu hören, der sich von ihrem eigenen unterscheidet. Das hilft letztlich die Realität des anderen emotional und kognitiv schätzen zu lernen. Das ist ein fundamentaler Weg, um Vertrauen aufzubauen, wo Misstrauen vorherrschte und um kollektive Kreativität zu fördern. Dabei ist es die Aufgabe von System Entrepreneuren aus vagen Absichten konkrete Ziele und Visionen zu formulieren und aus dem Spannungsverhältnis mit der Realität neue nachhaltige Ansätze zu schaffen.
Drittens: Einen gemeinsamen Raum schaffen
Sind nach Analyse und Reflexion die Ziele und Visionen des eigenen Vorhabens festgelegt, kommt es nun darauf an, einen Raum für dessen Umsetzung zu schaffen. Dafür ist der Aufbau einer Infrastruktur ein wesentlicher Bestandteil des System Entrepreneurships. Vor allem deshalb, da sie eines ermöglicht: Kollaborationen – die Zusammenarbeit aller Stakeholder eines Systemwandels zugunsten eines gemeinsamen, nachhaltigen Ziels. Es sollte klar sein, dass sich ein Systemwandel kaum alleine bewältigen lässt. Das liegt im Wesentlichen daran, dass ein einzelner Akteur – wie etwa ein Social Startup – kaum in der Lage ist, das dazu notwendige Spektrum an Fähigkeiten und Mitteln abzudecken. System Entrepreneurship beinhaltet demnach immer Allianzen aus verschieden Co-Innovatoren und Distributoren, die eine gemeinsam entwickelte Innovation systemisch etablieren. Ein Merkmal für ein erfolgreiches System Entrepreneurships ist demnach die Schaffung einer optimalen Konstellation der am Wandel beteiligten Akteure. Dazu benötigt es Einfühlungsvermögen, die Fähigkeit, branchen-, kulturen- und perspektivübergreifend zu übersetzen, Beziehungen aufzubauen und Workshops und Veranstaltungen zur Unterstützung des Veränderungsprozesses zu konzipieren und zu moderieren. Das alles mit dem Ziel ein möglichst breites Publikum in den Wandel einzubinden.
Viertens: Mit den richtigen Tools ein Systemwandel steuern
Soweit so gut, doch geht es um die konkrete Umsetzung, stellt sich leicht die Frage: Welche Tools eignen sich am besten? Und nach welchem sollte vorgegangen werden? Eine einheitliche Antwort auf diese Frage gibt es nicht. Die Wahl einer der unzähligen Methoden und Ansätze ist abhängig von Merkmalen wie Art, Alter und Größe eines Systems. Etabliert haben sich aber unter anderem: Theory U, Collective Impact oder Change Labs. Ein Werkzeug, das oft sehr hilfreich ist, ist zudem das sogenannte Mapping. Hierbei werden die Hauptakteure eines Systems und ihrer Beziehungen zueinander illustriert. Das kann helfen, Systeme besser zu verstehen, indem sie in einfacher Form dargestellt, beschrieben und, für weitere Überlegungen, dokumentiert werden. Letztlich bildet der Prozess des Mappings, durch seinen kollaborativen Gestaltungsprozess an sich, eine Plattform zur gemeinsamen Reflexion und Analyse.
Beim Steuern, das heißt dem Anwenden von Tools und Werkzeugen, gibt es zwei essentielle Herausforderungen. Zum einem ist der Ausgang eines Systemwandels, aufgrund mangelnder Erfahrungswerte, oft ungewiss, zum anderen sind Lern -und Steuerungsprozesse oft verschieden und komplex. Für den Bruch mit dem Status Quo eignet sich etwa eine Führungspersönlichkeit, die wie ein Pirat eine Crew anführt und Schlachtzüge von den Seitenrändern eines Systems startet, während der Aufbau von Allianzen jedoch eine Führungspersönlichkeit erfordert, die eher einem Gemeinschaftsorganisator gleicht.
Fünftens: Zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein
Systeme sind immer mehrdimensional. Unabhängig davon, ob es sich um abstrakte oder konkret greifbare Strukturen handelt: Raum und Zeit spielen bei ihrer Zusammensetzung eine wesentliche Rolle. Umso einleuchtender scheint es, diese beiden Parameter in das eigene Handeln einzubeziehen. Kurzum: Wer einen Systemwandel erfolgreich umsetzen will, muss zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein. Dafür identifizierte die einflussreiche Systemtheoretikerin Donella Meadowskonkrete Punkte, die eine größtmögliche Hebelwirkung versprechen – die sogenannten Leverage Points (eng.: „leverage“= deutsch: Hebelwirkung)Das Prinzip dahinter ist es, Orte in einem System zu definieren, deren minimale Veränderung zu einem größtmöglichen Wandel im Systemverhalten führt.
Ein Wirkungsmaximum wird am besten erzielt, sobald sich ein System im Umschwung befindet. Vollzieht ein System beispielsweise den Übergang von Aufschwang zu Abschwung, werden feste und resistente Strukturen durch deren Umorientierung elastischer und offener für neue Ansätze. Demnach ist die Aufgabe eines System Entrepreneurs herauszufinden, wann sich Bedürfnisse und Wünsche in einem System ändern, um dann adäquate Vorschläge zu deren Erfüllung vorschlagen zu können. Wo ein Hebel die größte Wirkung erzielt, ist abhängig vom eigenen Vorhaben. Die Möglichkeiten sind also vielseitig. So krempeln nicht nur smarte Elektroautos festgefahrenen Systeme um, sondern kann ein Systemwandel auch durch Dienstleistungen oder durch reine non-profit Initiativen bewirkt werden. So versorgt etwa das Projekt Child & Youth Finance International (CYFI) Kinder und Jugendliche aus prekären Lebensverhältnissen mit Bildungsinhalten zu Finanz -und Wirtschaftssystem. Die Idee: Jungen Menschen wird eine bessere Lebensgrundlage gewährt, indem sie lernen, wie sie Zugang zu finanziellen Mitteln bekommen, eigenes Geld sparen und es in ihre Zukunft investieren können. Um das zu erreichen, sollen langfristig bildungs- und finanzpolitische Systemstrukturen, gemeinsam mit relevanten Systemakteuren, nachhaltig verändert werden. Das Projekt übernimmt dabei die Rolle des Change Leaders und ist damit Befürworter, Experte und Netzwerker zugleich. Operativ erfordert das besonders: die Schaffung eines Problembewusstseins, das Generieren und Teilen von relevantem Wissen, sowie der Aufbau von Allianzen. Letztlich ist dies nur ein Beispiel von vielen, aber es zeigt, dass ein Systemwandel mit den richtigen Schritten machbar ist und das für ein Ziel, für das es sich zu kämpfen lohnt.
Lesetipp //
Donella Meadows: Thinking in Systems – A primer.
(c) Titelbild: Deva Darshan