Mittlerweile dürfte es bis in die letzte Ecke der Bundesrepublik hervorgedrungen sein, dass auch hierzulande Großstädte aus allen Nähten platzen. Warum also nicht einfach aufs Land ziehen – Digitalität macht es jedenfalls möglich.
Als ich mit der Hälfte meiner Familie weggezogen bin, war ich das, was man einen pubertären Teenie nennen kann. Mittlerweile wohne ich fast so lange in meiner neuen Heimat, wie jemand von dessen Geburt an braucht, um das Abitur zu bestehen und um den Führerschein zu machen. Dort wo ich ursprünglich herkomme, ist der Führerschein essentiell. Denn ich komme vom Land. Wer dort versucht sein Leben ohne motorisierten Untersatz zu meistern, wird aller Voraussicht nach kläglich scheitern. Aber dort wo ich herkomme, kann man auch aus anderen Gründen scheitern. Ich komme aus einer Kleinstadt im – sagen wir mal – Dreiländereck zwischen Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen. Eine Gegend die nicht wirklich bekannt ist für ihre wirtschaftliche Stärke, die sie aber durchaus hatte.
Nach der deutschen Wiedervereinigung sollten es die blühenden Landschaften regeln. Zunächst haben aber erstmal viele Menschen in dieser und anderen Gegenden in den nun mehr 30 Jahre alt gewordenen „neuen“ Bundesländern oft vergebens um ihre Identität und soziale Absicherung gekämpft. Meist haben sie diese gegen Treuhand, Ignoranz und nicht selten Arroganz verloren. Aber genug mit der Schwarz-Weiß-Malerei: denn der „Osten“ kann mehr als jammern oder rechte Parolen rufen – was in einigen Gegenden erschreckend normal geworden ist und ein riesen Problem ist. Dass in Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen, Mecklenburg-Vorpommern vielleicht bald wieder mehr geht, liegt am Land-Joker der jetzt durch einen fortschreitenden digitalen Wandel ins Spiel kommt. Dort wo Industrien und Lebenspläne zerbrochen sind, bietet günstiger Raum und digitale Kopfarbeit wieder Potentiale für ein Comeback der Provinz.
Menschen wandern, Dörfer werden urban
Um herauszufinden, was sich da auf dem Land zwischen sächsischem Vogtland und Rügen so tut, welche Potentiale einer digitalen Zukunft dort liegen, muss zunächst mal ein subjektives Ich einem objektiven Faktencheck Platz machen. Solche Fakten haben vor nicht allzu langer Zeit das Berlin Institut für Bevölkerung und Entwicklung gemeinsam mit dem gemeinnütziger Think & Do Tank neuland21 anhand der Studie „Urbane Dörfer – Wie digitales Arbeiten Städter aufs Land bringen kann“, geliefert. Was dort mit einem besonderen Blick auf die besagten Bundesländer erörtert wird, sind erstmal die Folgen, die sich aus dem demografischen Wandel innerhalb unserer Gesellschaft beobachten lassen und wie sich diese auf die Lebensbedingungen und -chancen in der Stadt und auf dem Land auswirken.
Das Verhältnis von Stadt und Land wird sich dabei wohl neu definieren. Im Wandel ist jedenfalls so einiges. So zieht es laut Studie sogenannte „Bildungswanderer“ zwischen 18 und 24 Jahren in die größeren Städte wie Potsdam, Dresden, Leipzig, Erfurt, Rostock oder Jena. Andere und vor allem großstadtferne Regionen jedoch, verzeichnen auch weiterhin einen massiven Bevölkerungsschwund. Wohnten etwa 1990 in Sachsen-Anhalt noch rund 2.9 Millionen Menschen, sind es heute nur noch 1.9 Millionen. Gründe für eine derartige Entwicklung bestehen laut Studie vor allem darin, dass viele der untersuchten ländlichen Regionen keine ausreichende Infrastruktur für die Ausbildungsversorgung einer modernen Wissensgesellschaft liefern. So gibt es kaum Universitäten und höhere Schulen im ländlichen Raum. Gleichwohl ist es die Attraktivität des kulturellen Angebots, aber auch das an Arbeitsplätzen, was vor allem junge Menschen in Großstädte wie Leipzig, Berlin und Dresden zieht. Das Land, sofern es nicht unmittelbar an urbane Zentren angeschlossen ist, bleibt also der große Verlierer.
Der digitale Wandel zum Guten
Aber laut der Studie gibt es ebenso Grund für ein ländliches Hoffen. Das nicht nur deshalb, da immer mehr Familien aufgrund von explodierenden, städtischen Immobilienpreisen nach günstigen Alternativen auf dem Land Ausschau halten, sondern weil – im Wortlaut der Studie – „kreative, digital affine Stadtbewohner“ in virtuellen und realen Gruppen zusammenfinden, um zu diskutieren, wie ein Leben auf dem Land für sie attraktiv sein kann. Solche digitalen Pioniere die rein theoretisch von überall auf der Welt ihrer Arbeit nachgehen können, bringen eine Arbeitsweise aufs Land, die bereits in vielen Teilen unseres Arbeitsalltags selbstverständlich geworden ist. So arbeiten wir laut Studie mittlerweile fast schon wie selbstverständlich unterwegs im Zug und verschicken unserer Mails bequem aus unserer, als Home-Office umfunktionierten Küche heraus. Warum also nicht auch auf dem Land arbeiten?
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Weitere InformationenWie funktioniert digitales Leben auf dem Land? Einige Menschen gehen dieser Frage mit eigenen kreativen Projekten nach. (c) Tagesschau vom 12.08.2019, ARD/RBB
Diese Frage stellen sich, laut Studie, immer mehr Menschen. Das interessante: Ein paar Menschen von denen, die den Schritt von der Großstadt aufs Land wagen, nehmen nicht einfach ihre Arbeit mit, indem sie einfach ein neues, ländliches Home-Office-Quartier aufschlagen oder indem sie sich beispielsweise als Lehrer oder Ärztin eine neue Anstellung suchen. Vielmehr versuchen einige der neuen Landbewohner*innen nach ihrem Umzug raus aus der Stadt nicht nur wohnlich, sondern auch beruflich neue Wege zu gehen. Das ist oftmals verbunden mit der Organisation in Gemeinschaftsprojekten und Unternehmensgründungen. Ein positiver Effekt: Diese Geschäftigkeit beinhaltet nicht selten die Umsetzung kreativer Ideen: So werden Hofläden konzipiert, Cafés betrieben, Galerien eröffnet oder Kulturfestivals ins Leben gerufen. Positiv sind solche Vorhaben vor allem deshalb, da so abgeschriebene Landstriche zu neuem Leben erweckt werden und letztlich so ein kultureller Austausch stattfinden kann.
Einzelfälle mit strahlender Wirkung
Bilden Projekte und Unternehmen, die solche Ideen in die Realität umsetzen, zwar eher eine Ausnahme statt die Regel, wird ihnen innerhalb der Studie doch aber das Potential zugesprochen, als „Digitale Inseln“ bisher strukturschwachen Dörfern den Weg in die Zukunft zu ebenen. 19 solcher ganz konkreten Projekte hat die Studie näher unter die Lupe genommen. Darunter etwa die Genossenschaft „Uferwerk“ im brandenburgischen Werder an der Havel, deren Mitglieder ein altes Fabrikgelände zu einem Mehrgenerationenwohnort umgebaut haben und nebenbei ein Lebensmittelkooperative ins Leben gerufen. Ein anderes Beispiel ist etwa der Verein „Kultur- und Bildungsstätte Kloster – Posa e.V.“ vor den Toren der einst blühenden Industriestadt Zeitz. Inmitten des Mitteldeutschen Braunkohlereviers hat sich ein Gemeinschaftsprojekt angesiedelt, dass auf dem Gelände eines ehemaligen, gleichnamigen Klosters ein breites Veranstaltungsangebot in Kultur und Bildung schafft, um – wie es auf der eigenen Website heißt – „die Vernetzung und den Austausch in diesen Disziplinen zeitgenössisch und nachhaltig zu fördern sowie Aspekte des gemeinschaftlichen Lebens miteinander zu vereinen.“
So oder so ähnlich begreifen fast alle Projekte ihren Auftrag. Das Land sozial wiederbeleben. Die Menschen hinter diesen Projekten sind laut Studie meist Akademiker*innen die vor allem kreative und wissensbasierte Berufe ausüben. Ansonsten könnten die Unterschiede der einzelnen Projekte teilweise kaum größer sein. So gibt es unter ihnen solche, die nur von einer Handvoll umgesetzt werden, während andere „einen der größten Viehhöfe Brandenburgs“ wieder zu neuen Leben erwecken. Eines haben aber alle Projekt gemeinsam: Sie setzen neue Impulse und zeigen vor allem eines: Es geht auch anders.