Im Wertschöpfungsverständnis der kapitalistischen Produktionsweise werden die Schäden, die dabei entstehen, nicht im Preis mit abgebildet. Wie kann das sein?
Was kosten eigentlich neue Produkte? Eine scheinbar leicht zu beantwortende Frage, denn die Kosten, die Konsument*innen dafür bezahlen müssen, sind meist offensichtlich auf dem Preisschild ausgezeichnet. Wenn das Unternehmen, welches das Produkt anbietet, wettbewerbsfähig arbeiten möchte, werden mit diesem Preis alle Kostenpunkte, die dem Unternehmen im Herstellungs- und Distributionsprozess anfallen, an die Konsument*innen weitergegeben. Und hinzukommt noch die Marge, mit der sich ein Gewinn durch den Verkauf des Produktes erzielen lässt. In dieser Logik schafft das Unternehmen durch die Weiterverarbeitung von Rohmaterialien, die Herstellung von Produkten und deren Verkauf einen Wert. Das Zusammenspiel all dieser Prozesse, die zusätzlich auch die Kosten für das Personalwesen, die Entwicklung neuer Technologien und die Unternehmensinfrastruktur beinhalten, wird als Wertschöpfungskette bezeichnet. Die Wertschöpfung an einem Produkt durch den Hersteller endet in den meisten Fällen mit dem Verkauf des Produktes an den Konsumenten. In manchen Fällen gibt es aber auch noch ein Aftersales-Geschäft, bei denen die Produzenten den Konsumenten weitere Dienstleistungen für die weiterführende Nutzung und Instandhaltung eines Produktes anbieten. Aber meist nimmt auch der Verdienst der Hersteller hier schnell ab.
In dieser linearen Wertschöpfung entsteht Wert dadurch, dass zuvor scheinbar wertlose Natur durch menschliche Arbeit abgebaut, in physische Artefakte umgewandelt, veräußert und schlussendlich wieder entsorgt wird. Diese Form der Wertschöpfung wird auch als „Take, Make, Waste-Ökonomie“ bezeichnet, da die Ressourcen hierbei nicht wieder in die natürlichen Kreisläufe zurückgeführt werden.
Externe Kosten und Effekte
Hier fallen aber auch Kosten an, die nicht in der Preisbildung in der Wertschöpfungskette berücksichtigt werden und folglich nicht direkt vom Konsumierenden getragen werden. Wird zum Beispiel von einer Konsument*In in einem Café ein Coffee-to-go in einem Einwegbecher erworben, so sind in dem Preis, der dafür bezahlt wird, anteilig unter anderem die Kosten für den Anbau und die Ernte der Kaffeebohnen, deren Transport und Weiterverarbeitung, die Gewinnmarge des Kaffeeproduzenten, die Personalkosten des Cafés, die Miete für dessen Räumlichkeiten und die Anschaffung- und Instandhaltungskosten für die Kaffeemaschine enthalten. Wenn aber der Einwegbecher nach dem Konsum im Mülleimer oder auf der Straße landet, fallen auch Kosten für die öffentliche Müllentsorgung oder die Straßenreinigung an. Diese Kosten werden als externe Effekte bezeichnet, da sie nicht in der Kosten-Nutzen-Rechnung des Herstellers berücksichtigt werden. Aber trotzdem muss jemand dafür bezahlen: In dem Fall wird die Kosten für die Müllentsorgung und Straßenreinigung von den Steuerzahler*innen getragen und die externen Kosten so kompensiert. Die Beteiligten in der Wertschöpfungskette und die Konsumierenden profitieren dadurch, da sie nicht für die von Ihnen verursachten Kosten bezahlen müssen, wohingegen die Allgemeinheit für einen Schaden aufkommen muss, den sie nicht verursacht hat. Aber so einfach wie im Beispiel der Müllbeseitigung ist es meist nicht, denn die externen Effekte sind zahlreich und oft unüberschaubar. So fallen in der Wertschöpfungskette des Coffee-to-go eine kaum zu überblickende Menge von Kosten an: So finden zwar die Kosten für eine Rodung einer Anbaufläche für Kaffee Eingang in den Preis, nicht aber die Schäden am Ökosystem Regenwald, die dadurch entstehen. Und der Anteil für den Treibstoff, mit dem die gerösteten Kaffeebohnen über den Ozean verschifft werden, wird berücksichtigt, nicht aber die vom Containerschiff verursachte Luftverschmutzung. Im Prozess der Wertschöpfung entstehen so eine Vielzahl von Schäden, die nicht im Preis beinhaltet sind und für die der Endverbraucher auch nicht bezahlt.
Kritiker*innen des linearen Wirtschaftssystems sind sich dabei sicher: Die Schäden, die durch das wirtschaftliche Handeln entstehen, sind weitaus größer, als der produzierte Wert. Und während die geschaffenen Werte kurzfristig bestehen, sind die Schäden an Ökosystem und Gesellschaften oft langfristig und irreversibel.
Externalisierung
Doch wie kann es sein, dass mehr Kosten und Schäden entstehen als Wert und Nutzen? Ein solcher Zusammenhang müsste doch klar als selbstzerstörerisch zu erkennen sein und würde unweigerlich zu einem Umdenken führen. Wie kann also ein Wirtschaftssystem funktionieren, das die realen Kosten der Produktion und des Konsums nicht mit abbildet sowie Schad- und Wertschöpfung nicht zusammen betrachtet?
Beim Versuch, diese Fragen zu beantworten, wird schnell klar, dass ein Zusammenhang oft nicht so klar zu erkennen ist, wie das bei einem Produkt, dass nur auf einmalige Benutzung ausgerichtet und dem Anfallen von mehr Müll der Fall ist. So ist zum Beispiel eine Häufung von Atemwegserkrankungen, für die das Gesundheitssystem aufkommen muss und unter denen Menschen leiden, auf den Schadstoffausstoß von Automobilen mit Verbrennungsmotoren zurückzuführen. Aber auch Emissionen aus der industriellen Produktion und der Energieerzeugung sorgen für Gesundheitsbelastungen, genau wie Alkoholkonsum, starkes Rauchen und auch Viren, Bakterien und Pilze. Entstehende Schäden sind somit nicht eindeutig auf eine Ursache zurückzuführen und es ist nicht einfach möglich, die Verantwortung für die Schäden einem Urheber zuzuschreiben.
In vielen Fällen treten aber Wert- und Schadschöpfung gar nicht erst gemeinsam auf. Dies wird deutlich, wenn besonders komplexe Wertschöpfungsketten betrachtet werden, wie zum Beispiel die Entwicklung, Produktion und Nutzung von Smartphones. Diese sind Hochtechnologieträger, in denen immens viel Forschungs-, Entwicklungs- und Designleistung steckt. An den Standorten der IT- und HightechIndustrie weltweit findet hier durch die Entwicklungsarbeit und anschließend in den Industrieländern durch Distribution und Verkauf eine immense Wertschöpfung statt. Aber in Smartphones stecken auch eine Menge aufwendig zu fördernder Rohstoffe und eine arbeitsintensiver Weiterverarbeitungs- und Produktionsprozess. Hier kommt es zu einer ganzen Reihe von Schadschöpfungen:
- Beim Abbau von Mineralien und seltenen Erden kommt es zu Umweltschäden durch den Bergbau. Durch die Nutzung von Säuren zum Auswaschen des Gesteins fallen Giftschlämme als Abfallprodukt an, die langfristig Mensch und Umwelt toxisch belasten. Der Abbau der Rohstoffe findet dabei insbesondere in Schwellen- und Entwicklungsländern statt
- Die Arbeitsbedingungen in den Abbaustätten sind oft gefährlich und es existieren wenige Sicherheitsvorkehrungen. Arbeitsunfälle und prekäre Arbeitsverhältnisse wie Kinderarbeit gehören zum Alltag
- Die Förderung der Rohstoffe findet darüber hinaus oft in Krisengebieten statt. Die Gewinne aus der Förderung werden oft für Waffenkäufe verwendet und führen zur Fortführung der bewaffneten Konflikte
- Beim Transport der Rohmaterialien hin zu den Produktionsstandorten fallen Co2 Emissionen und andere Umweltbelastungen an
- An den Produktionsstandorten, die häufig in asiatischen Schwellenländern liegen, herrschen meist geringe Gesundheits- und Sozialstandards
- Es kommt zu Umwelt- und Gesundheitsbelastungen durch die Nutzung von fossilen Energieträger zur Energieerzeugung bei der Herstellung
- Weitere Emissionen durch Transport und Distribution
- Energieverbrauch von Servern durch Internet Nutzung auf dem Smartphone
- Ablenkung durch Smartphone Nutzung als häufigste Ursache für Verkehrsunfälle
- Entwicklungsstörungen bei Jugendlichen und Stressbelastung bei Erwachsenen durch ständige Erreichbarkeit
- Umwelt- und Gesundheitsschäden durch unsachgemäßes Recycling auf Elektromülldeponien in Entwicklungs- und Schwellenländern
Bei der der Betrachtung der Schadschöpfungskette wird deutlich, dass der größte Teil dieser Schäden in den Ländern anfallen, in denen Rohstoffgewinnung, Produktion und Entsorgung stattfinden. Bei diesen Ländern handelt es sich oft um Entwicklungs- oder Schwellenländer.
Dieser Zusammenhang ist dabei grundlegend für das Funktionieren eines globalisierten Wirtschaftssystems, das mehr Schäden produziert als Wert: Während die Wertschöpfung in den westlichen Industrienationen passiert und die Gewinne hierhin transferiert werden, wird die Schadschöpfung in die Länder der globalen Peripherie ausgelagert. Die Wertschöpfung erfolgt damit auf Kosten der Umwelt- und der Bevölkerung an anderen Orten und ermöglicht das angenehme Leben in den kapitalistischen Zentren. Dieser Zusammenhang wird in den Sozialwissenschaften als Externalisierungsprozess bezeichnet. Er stellt sich als ein globalisierter Ausbeutungsprozess dar, der aufgrund der weltweiten Machtasymmetrien zwischen den reichen Industrieländern und der globalen Peripherie möglich ist. Diese Ungleichheit wird dabei nicht nur ausgenutzt, sondern durch die entstehenden Schäden, durch die die Entwicklung in den Schwellen- und Entwicklungsländern gehemmt wird, auch noch verstärkt.
Die Ausblendung der tatsächlichen Kosten
Die Tatsache, dass andere hier und jetzt den Preis für das angenehme Leben in den kapitalistischen Zentren zahlen, wird aber in diesen weitestgehend ausgeblendet. Man sieht es einem Produkt nicht an, zu welchen Bedingungen es produziert wurde und welche Schäden dabei entstanden sind. Und oft genug versuchen die Hersteller*innen bewusst die Herkunft der Produkte oder deren Entstehungsumstände zu verschleiern. Doch auch diese Verdunklungsstrategien dürften eigentlich Konsument*innen nicht darüber hinwegtäuschen, dass andere Menschen an anderen Orten die vollen Kosten und Schäden für Produkte zu Dumpingpreisen tragen müssen. Doch laut dem Soziologen Stephan Lessenich ist es uns Menschen in den Industrienationen bereits so in Fleisch und Blut übergegangen, auf Kosten anderer zu leben, dass dies vorbewusst als gegeben wahrgenommen wird. Denn die Externalisierungsprozesse sind tief in der Wirtschaft, der Politik und der Mentalität der Menschen verwurzelt. Es wird auf Kosten anderer gelebt, weil man es kann – und weil man nicht anders kann. Denn es ist nicht so einfach, so zu konsumieren, wie man möchte und nicht jeder kann sich frei entscheiden, ethischen Konsum zu betreiben. Daher werden die Folgen ausgeblendet oder sogar durch eine Schuldumkehr legitimiert. So werden zum Beispiel die bewaffneten Konflikte in den östlichen Provinzen der demokratischen Republik Kongo in den westlichen Medien oft auf Spannungen zwischen ethnischen Gruppen zurückgeführt. Dass diese Konflikte wesentlich um den Zugang zu für die Elektronikindustrie wichtige Mineralienvorkommen geführt und aus den Einnahmen durch deren Abbau finanziert werden, wird hingegen oft ausgeblendet.
Ein ähnliche Schuldumkehr findet statt, wenn auf die hohen Emissionswerte von China aufmerksam gemacht wird – China belegt unter allen Ländern weltweit den Spitzenplatz für den höchsten Co2 Ausstoß. Aber 50% dieser Emissionen fällt bei der Herstellung von Konsumgütern an, die für ausländische Märkte produziert werden. Diese Emissionen stellen damit „outgesourcte“ Schadstoffausstöße aus, die eigentlich dem Land zur Last gelegt werden müssten, in denen sie konsumiert werden.
Wege aus der Krise
Das kapitalistische Wirtschaftssystem, das auf dem Internalisieren von Gewinnen und dem Externalisieren von Schäden beruht hat über Jahrzehnte in den Zentren für einen nie dagewesenen Wohlstand gesorgt. Doch es basiert auf einem Außen, das Quelle günstiger Rohstoffe, billiger Arbeitskräfte und bequemer Entsorgungsmöglichkeiten ist. Dieses Außen schwindet jedoch. So fungieren Schwellenländer wie China oder Indien zwar noch als Produktionsstätten der Weltwirtschaft – doch die dortigen wirtschaftlichen Eliten praktizieren mittlerweile einen vergleichbaren Lebensstil und auch der Wohlstand und Konsum der Mittelschicht wächst. Diese Länder treten damit in Konkurrenz um das Außen. Und auch die jahrzehntelange Schadschöpfung in den Entwicklungsländern fällt auf die kapitalistischen Zentren zurück. Umweltzerstörungen und durch Klimawandel hervorgerufene Extremwetterereignisse erschweren das Leben in diesen Ländern und immer weniger Menschen sind bereit, die Kosten für das Leben der anderen zu tragen, was sich unter anderem in Fluchtbewegungen nach Europa niederschlägt.
Der Erfolg der kapitalistischen Produktionsweise kommt also an seine Grenzen. Doch welche Wege könnten aus der Krise führen?
Preise müssen alle entstehenden Kosten abbilden, auch die Schäden, die in anderen Weltgegenden anfallen. Solange das nicht geschieht, wird Wertschöpfung immer auf den Schäden anderer basieren. Doch damit ergeben sich andere Probleme, unter anderem durch die Monetisierung der Schäden. Wie sind die Kosten für die Zerstörung einer Regenwaldfläche zu bewerten? Was kostet das Aussterben einer Art, was kann der monetäre Ausgleich für eine Stunde Fabrikarbeit und den widrigsten Bedingungen sein? Während die Bewertung dieser Schäden eine Herausforderung ist, würde die Einpreisung dieser Schäden in ein lineares Wirtschaftssystem zwangsläufig dafür sorgen, dass es sich nicht mehr „lohnt“. Langfristig kann also nur die Schließung von wirtschaftlichen und natürlichen Kreisläufen am Ende dieser Entwicklung stehen.
(c) Alle Bilder: Sebastian Preiß